Jüdische Reaktionen auf Antisemitismus
Die Entgrenzung des Sag- und Machbaren in der jüdischen Ritualpraxis

Jüdische Ritualpraxis und Religiosität werden bis heute an christlichen Begriffen und Traditionen gemessen, weshalb Verständnis und Akzeptanz begrenzt sind und die jahrhundertelang tradierte Ablehnung, bewusst und unbewusst, fortgeführt wird. Das Projekt untersucht, ob und in welchem Ausmaß Juden und Jüdinnen durch die christlich konnotierten, ablehnenden Haltungen in ihrer eigenen religiösen Praxis beeinflusst werden. Haben sie in Wort oder Tat schon negative Reaktionen auf jüdische Rituale erfahren, so dass sie deren Sichtbarkeit einschränken? Werden feindselige Äußerungen oder sogar körperliche Übergriffe antizipiert, so dass auf die Zurschaustellung jüdischer religiöser Symbole und Praktiken verzichtet wird? Diese vermutete Selbstzensur beschreibt die Grenzen des Sag- und Machbaren jüdischen Lebensvollzugs in Deutschland.

Das Projekt widmet sich der Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für die blinden Flecken im Umgang mit jüdischer Religionsausübung, indem einerseits Jüdinnen und Juden als Betroffene interviewt werden und andererseits die öffentliche Wahrnehmung jüdischer Ritualpraxis in der Alltagspresse analysiert wird.

Ziel des Projektes ist zum einen das Empowerment von Juden und Jüdinnen in Bezug auf eine öffentliche Sichtbarmachung jüdischer Rituale und Traditionen. Zum anderen die Vermittlung jüdischer Praxis und Religiosität an nichtjüdische Akteure, um deren Abwertung in christlicher Theologie, Lehre und in öffentlichen Diskursen entgegenzuwirken.

Das Verbundprojekt ist gegliedert in zwei Teilprojekte:

Mitarbeiterinnen: Dr. Ulrike Offenberg, Jessica Hösel

Das Projekt an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg untersucht in einer ersten Phase, ob und in welchem Ausmaß Juden und Jüdinnen durch diese ablehnenden Haltungen in ihrer eigenen religiösen Praxis beeinflusst werden. Haben sie in Wort oder Tat schon negative Reaktionen auf jüdische Rituale erfahren, so dass sie deren Sichtbarkeit einschränken? Werden feindselige Äußerungen oder sogar körperliche Übergriffe antizipiert, so dass auf die Zurschaustellung jüdischer religiöser Symbole und Praktiken verzichtet wird? Diese vermutete Selbstzensur beschreibt die Grenzen des Sag- und Machbaren jüdischen Lebensvollzugs in Deutschland.

Die zweite Projektphase widmet sich der Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für diese blinden Flecken im Umgang mit jüdischer Religionsausübung. In Workshops für Multiplikator:innen der christlichen Kirchen sollen Traditionsstränge der Ablehnung jüdischer Ritualpraxis und deren anhaltende Wirkmächtigkeit sichtbar gemacht werden. Theolog:innen, Pfarrer:innen und Religionspädagog:innen haben so die Möglichkeit, sich mit historisch-theologischen Positionen des Christentums zu Schabbat- und Feiertagspraxis, Beschneidung, Kaschrut, Schächten und anderen Aspekten jüdischer Religion auseinanderzusetzen und dabei judentumsfeindliche Traditionsbestände zu erkennen. Auf diese Weise kann auf häufig übersehene Bedingungen und Einschränkungen jüdischen Lebens in Deutschland aufmerksam gemacht werden.

Zugleich sollen Kurzvideos mit Jüdinnen und Juden entstehen, in denen diese anschaulich, authentisch und emotional erklären, warum für sie welche Formen der Ritualpraxis persönlich wichtig sind. Sie sollen ermutigt werden, selbstbewusst zu schildern, warum Beschneidung, Schächten, das Tragen einer Kippah, Kaschrut oder Observanz von Schabbat und Feiertagen für sie wichtig und Teil des „Gesamtpakets Judentum“ bedeuten. Diese Kurzvideos sollen in den Workshops eingesetzt und auch über die sozialen Medien verbreitet werden, um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz gelebter jüdischer Traditionen zu erzielen. Ziel des Forschungs- und Bildungsprojekts ist das Empowerment von Juden und Jüdinnen in Bezug auf eine öffentliche Sichtbarmachung jüdischer Rituale und Traditionen. Andererseits können nichtjüdische Akteure auf diese Weise jüdische Praxis und Religiosität besser verstehen und deren Abwertung in christlicher Theologie, Lehre und in öffentlichen Diskursen entgegenwirken.

Die Webseite juedischleben ist das Ergebnis des Projekts „Ritualpraxis“ der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, das Jessica Hösel und Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg im Rahmen des Forschungsnetzwerks Antisemitismus im 21. Jahrhundert von 2021 bis 2024 durchgeführt haben. Die Texte, Videos und Analysen sind gedacht als Materialien für den Unterricht in der Schule und in der Erwachsenenbildung, für Workshops und Projektarbeit, um Judentum kennenzulernen und ja, auch um zu verstehen, wie sehr Antisemitismus das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland beeinträchtigt. Die Begleittexte der Videos stehen in Deutsch, Türkisch und Arabisch zum Download zur Verfügung.

Mitarbeiter:innen: Dr. Jobst Paul, Dyana Rezene

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung e.V. führt im Rahmen des Gesamtprojekts eine diskursanalytische Medienanalyse zur Thematisierung des Judentums in deutschen Alltagsmedien durch.

Ziel ist es, jene Strukturelemente im Diskurs zu ermitteln, die nach wie vor für das ‚othering‘ verantwortlich sind, obwohl der politische und mediale Diskurs in großer Breite nunmehr den ‚Kampf gegen Antisemitismus‘ thematisiert. Ganz besondere Aufmerksamkeit gilt der Frage, ob und in welcher Form sich das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, das im März 2021 eröffnet und nun verlängert wurde, im aktuellen Mediendiskurs niederschlägt. Die Analyse kann auf Vergleichsdaten aus einer historischen Diskursanalyse zurückgreifen, die das DISS vor einigen Jahren zum deutsch-jüdischen Diskurs im 19. Jahrhundert durchführte, der vom Widerstand gegen Antisemitismus und gesellschaftlicher Marginalisierung geprägt war. Daraus ergaben sich rund zehn konkrete Fragestellungen, die nun erneut und mit noch größerer Dringlichkeit an heutige Diskurse herangetragen werden müssen.

Tausend feine Risse. Forschungsbericht zu „Judentum in der deutschen Alltagspresse“

Im Verbundprojekt Jüdische Reaktionen auf Antisemitismus: die Entgrenzung des Sag- und Machbaren in der jüdischen Ritualpraxis wird ein Spannungsverhältnis zwischen jüdischer Innensicht und der Sicht der Mehrheitsgesellschaft auf Jüdinnen und Juden adressiert, das Auswirkungen auf die Ritual- und Lebenspraxis von Jüdinnen und Juden hat. Das Teilprojekt ‚Judentum‘ in der deutschen Alltagspresse. Diskursanalytische Folgerungen für die didaktische Praxis hat sich die Aufgabe gestellt, die betreffenden Signale im deutschen Mediendiskurs zu lokalisieren und daraus Hinweise auf Gegenstrategien abzuleiten. In Form einer Medienanalyse wurden jene Strukturelemente im öffentlichen Diskurs ermittelt, die nach wie vor für das ‚Othering‘ verantwortlich sind, obwohl politische und mediale Debatten in großer Breite nunmehr den ‚Kampf gegen Antisemitismus‘ thematisieren. Das der Analyse zugrunde gelegte Textarchiv wurden zwischen Januar und März 2021 erhoben und beinhaltet damit sowohl den internationalen Gedenktag der Opfer des Holocaust, 27. Januar, als auch die Eröffnung des Festjahres 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, das im März 2021 eröffnet wurde. 

Die Analyse konnte auf Vergleichsdaten aus einer historischen Diskursanalyse zurückgreifen, die das DISS vor einigen Jahren zum deutsch-jüdischen Diskurs im 19. Jahrhundert durchführte, der vom jüdischen Widerstand gegen Antisemitismus und gesellschaftliche Marginalisierung geprägt war. (https://www.diss-duisburg.de/edition-deutsch-judische-autoren/) Den Kern der antijüdischen Rhetorik bildete während des gesamten Jahrhunderts die ethische Diskreditierung des Judentums. In Fortsetzung der christlich-antijüdischen Tradition in den Jahrhunderten davor und der Kirchenväter sprach man dem Judentum insbesondere das Ethos der Nächstenliebe ab (das in Wirklichkeit den Mittelpunkt der Tora bildet) und reklamierte es in einem Akt der ‚ethischen Enteignung‘ nun als eigenen Wert. Somit konnte das Christentum das Judentum als maßgebliche Religion ablösen. In der Konsequenz wurde dann auch der jüdische Ritus als ‚leer‘ und fremd diskreditiert.

Aus der Diagnose des Antisemitismus als ‚ethischer Enteignung‘ des Judentums und als Diskreditierung des jüdischen Ritus konnten ganz konkrete Fragestellungen entwickelt werden, die im Rahmen einer aktuellen Diskursanalyse an den heutigen Mediendiskurs herangetragen wurden. So sollte geklärt werden, wie im aktuellen Mediendiskurs über die jüdische Religionsausübung berichtet wird, welcher Stellenwert dem Judentum als Träger von ethischen Werten zukommt und wie jüdischer Ritus und jüdische Ethik im Wechselverhältnis gesehen werden.

Der soeben veröffentlichte Forschungsbericht (https://www.diss-duisburg.de/forschungsnetzwerk-antisemitismus-april-2024/) kommt dabei zu eindeutigen Ergebnissen: Danach finden sich in den untersuchten Medienberichten aus über 120 unterschiedlichen Medien praktisch keine deutlich antisemitischen Zuschreibungen. Überraschend ist auch, dass nahezu ein Drittel des Mediendiskurses über Judentum der Information über die jüdische Religionspraxis gewidmet ist.

Dieses vermeintlich positive Bild verändert sich aber fast ins Gegenteil, wenn man die Ergebnisse hinsichtlich der Berichterstattung über das Judentum als Träger von ethischen Werten dagegen hält. Danach wird diese ethische Dimension lediglich in vier Prozent des Mediendiskurses (zumeist nur kurz) thematisiert. Noch dramatischer erscheint der Befund angesichts der weiteren Tatsache, dass diese vier Prozent vollständig auf jüdische Sprecher:innen zurückgehen. 

Daraus ergibt sich, dass nicht-jüdische Sprecher:innen im Mediendiskurs des Untersuchungszeitraums die ethische Dimension des Judentums nicht thematisiert haben, sie kulturell also offenbar nicht präsent ist. Dieser Befund ist von besonderem Gewicht, als anlässlich der Eröffnung des Festjahrs 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland im März 2021 eine Fülle politisch, kulturell und kirchlich relevanter (nicht-jüdischer) Sprecher:innen zu Wort kam, über deren Stellungnahmen ausführlich berichtet wurde.

Setzt man diesen Befund ins Verhältnis zu den Ergebnissen der oben erwähnten historischen Forschung, so ist aus diskursanalytischer Sicht der Raum, in dem über viele Jahrhunderte eine antisemitische Diskreditierung der ethischen Grundlagen des Judentums, bzw. eine ‚ethische Enteignung‘ des Judentums stattgefunden hat, aktuell durch einen Bereich der ‚Nicht-Sagbarkeit‘ ersetzt worden. So kann auch die Frage beantwortet werden, warum und wie vom nicht-jüdischen Mehrheitsdiskurs für jüdische Betroffene nach wie vor massive Signale der Fremdheit und des ‚Othering‘ ausgehen, obwohl sich doch das politische und mediale Narrativ in großer Breite dem ‚Kampf gegen Antisemitismus‘ verschrieben hat.

Vor diesem Hintergrund wirft der jetzt veröffentlichte Forschungsbericht zumindest zwei wichtige Fragen auf: Könnte unter bestimmten Umständen jener Bereich der Nicht-Sagbarkeit, in dem das Judentum als Träger ethischer Werte (in Alltagsmedien!) zwar aktuell nicht mehr offen diskreditiert, aber auch noch immer nicht anerkannt wird, nicht doch wieder antisemitisch ‚reaktiviert‘ werden? Die Nicht-Sagbarkeit in Sagbarkeit zu verändern, d.h. die ethische Dimension des Judentums u.a. über Lehrpläne, Journalismus und den Kulturbereich – unter Einbezug jüdischer Sprecher:innen – zum selbstverständlichen Teil auch des nicht-jüdischen Mehrheitsdiskurses zu machen, erscheint daher die dringlichste Konsequenz aus dem jetzt veröffentlichten Forschungsbericht zu sein.

Zuvor aber stellt sich die Frage, wie sich der einzigartige Kontrast im Mediendiskurs aktuell in konkreten diskursiven Details niederschlägt: Wie wird ‚Fremdheit‘ im Detail produziert? Dazu zeichnet der Bericht in seinem Hauptteil anhand zahlreicher Einzelthemen die feinen Bruchlinien, rhetorischen Wendungen, Auslassungen oder Formeln nach, die sich schließlich zu einer noch immer nicht gelingenden Kommunikation der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Jüdinnen und Juden und Judentum verdichten und die sich vielleicht grob mit den beiden Begriffen des Paternalismus und des Exotismus charakterisieren lässt.

Der Forschungsbericht umfasst eine inhaltliche und methodische Einführung, eine kompakte Zusammenfassung der Befunde sowie die detaillierten Befunde selbst. In einem Anhang folgen sowohl die Zusammenstellung und Erschließung aller verwendeten Medientexte als auch die Bestandteile der entstandenen Datenbank. 

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Angesichts der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 und der dramatischen Zunahme antisemitischer Angriffe und Rhetorik auch in Deutschland erfolgte eine Verlängerung des Projekts bis März 2024, um eine Sondierung im Mediendiskurs zwischen dem 7.10. und dem 7.12.2023 zu ermöglichen. Die Ergebnisse werden im Verlauf des Jahres 2024 als Teil II. des Forschungsberichts veröffentlicht werden.

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Erste Teilergebnisse wurden bereits am 24. Februar 2022 im Rahmen einer Online-Präsentation des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung und am 2. März 2022 in einer kürzeren Präsentation gemeinsam mit dem Verbundprojekt Net Olam im Wissenschaftsforum Ruhr vorgetragen.

Die YouTube-Links zu den Mitschnitten der Veranstaltung vom 24. Februar finden sich auf der Instituts-Website des DISS unter http://www.disskursiv.de/2022/03/10/erste-projektergebnisse-das-judentum-in-der-alltagspresse-und-in-der-didaktischen-praxis/.

Der Mitschnitt der Präsentation vom 2. März 2022 ist nachzusehen auf dem youtube-Kanal des Wissenschaftsforums. Das Folienpaket dazu ist unter https://wissenschaftsforum-ruhr.de/wp-content/uploads/2022/03/Vortragsfolien_Jobst_Paul_DISS.pdf einsehbar.

  • Birgit Klein, Rabb. Prof. Dr. (Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg)
  • Ulrike Offenberg, Rabb. Dr. (Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg)
  • Jessica Hösel (Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg)
  • Jobst Paul, Dr. (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung e.V.)
  • Dyana Rezene (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung e.V.)

Veranstaltungen

Publikationen

  • Ritualpraxis: Jobst Paul: Die Binarismus-Analyse als Beitrag der Sprachwissenschaft zur Frage der Rassismus/Antisemitismus-Interferenz. Problemaufriss und Lösungsansätze, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 32 (2023), S. 387-416 .

  • Ritualpraxis: Jobst Paul: Religion und Macht - Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus, in: Kurzgutachten 7 im Auftrag von Core-NRW.

Alle Publikationen

Im Web

Projektseite juedischleben auf Webseite der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Kontakt

Rabb. Prof. Dr. Birgit Klein

Verbundkoordination
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
Landfriedstraße 12
69117 Heidelberg

Dr. Jobst Paul

Verbundpartner
Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung e.V.
Siegstr. 15
47051 Duisburg