Antisemitismuserfahrung in der Dritten Generation
Zur Reaktualisierung extremen Traumas bei Nachkommen von Überlebenden der Shoah

Projektbeschreibung

Der interdisziplinäre Forschungsverbund AE3G zielt auf eine umfassende, qualitative Analyse von Antisemitismuserfahrungen und transgenerationaler Reaktualisierung extremen Traumas im heutigen Leben der Dritten Generation, der Enkelinnen und Enkel von Holocaust-Überlebenden.

Im Zentrum stehen dabei die Einrichtung einer Encountergruppe, qualitative Einzelinterviews und psychoanalytische Fallvignetten zur Antisemitismuserfahrung mit Nachkommen von Überlebenden der Shoah. Es wird untersucht, in welcher Art und Weise zeitgenössischer Antisemitismus erfahren wird und wie er die historischen Verfolgungserfahrungen der Großeltern re-aktualisiert. Der Dritten Generation wird ein Raum eröffnet, über ihre Erfahrungen mit antisemitischen Anfeindungen, ihre Befürchtungen, Sorgen und Ängste sowie ihre Bewältigungs- und Verarbeitungsstrategien zu sprechen. Gleichzeitig werden Identifizierungen, Loyalitäten, Konflikte und die transgenerationale Tradierung des extremen Traumas – gerade in Deutschland – in den Blick genommen. Die Gruppensitzungen und Interviews werden in einem elaborierten multi-methodischen Forschungsdesign ausgewertet, um zu einer profunden Analyse der Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus – vor allem aus jüdischer Perspektive – zu gelangen.

In enger Zusammenarbeit mit den Kooperationspartner:innen widmet sich die abschließende Projektphase der Integration und Dissemination der neu gewonnenen Erkenntnisse. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Fortbildung von psychosozialen Fachkräften und dem Transfer in politische Bildungsangebote für Jugendliche und junge Erwachsene. Weiterhin wurde eine Online-Plattform eingerichtet, die einen niedrigschwelligen Zugang zu den Projektinhalten bietet. Zudem dient die Encounter-Gruppe der Erprobung eines kontinuierlichen Angebots im Rahmen des Treffpunkts für Shoah-Überlebende in Frankfurt.

Notsituation und Handlungsbedarf seit dem 7. Oktober und danach

Die durch die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober und in den Tagen danach verübten Massaker an Juden in Israel, der Terror, die anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen in Gaza, an der nördlichen Grenze zum Libanon, an der südlichen Grenze und die andauernde Bedrohung durch den Iran bedeuten eine Zäsur für die Dritte Generation auch in Deutschland. Teilweise haben sie Freunde oder Angehörige verloren, sind im Ungewissen über das Schicksal Hunderter von Geiseln, sorgen sich um Familie und Bekannte. Einige stammen aus Israel, viele kennen das Land sehr gut, haben dort längere Zeit gelebt, studiert oder gearbeitet. Manchmal – ob bei ihnen selbst oder im Bekannten- und Familienkreis – steht das Thema einer Einberufung zum israelischen Militär im Raum.

Auch die Situation in Deutschland belastet Nachkommen von Holocaust-Überlebenden enorm. Sie können nur wenig Hoffnung schöpfen. Zwar gibt es in Politik und Teilen der Zivilgesellschaft Mitgefühl und Solidaritätsbekundungen. Als Eindruck verfestigen sich aber immer mehr das Gegenteil und eine Praxis des Wegschauens oder der Einfühlungsverweigerung durch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Das Desinteresse überwiegt, die Relativierungen nehmen überhand, und die Täter-Opfer-Umkehr treibt ihre Blüten. Aber nicht nur das: Wir verzeichnen einen sprunghaften Anstieg des Antisemitismus im Alltag, auf den Straßen, in Schule, Studium oder Beruf, oder sogar im eigenen Bekanntenkreis. Jüdinnen und Juden sind in Deutschland mit groben Anfeindungen konfrontiert, mit Drohungen und Gewalt bis hin zur Lebensgefahr.

Nachkommen von Überlebenden fühlen sich dabei hilflos und können schwer auf eine Hilfe von „außen“ vertrauen. Dies zieht teilweise sehr folgenreiche psychische und soziale Auswirkungen nach sich, die traumatischen Charakter haben können. Jüdinnen und Juden berichten, schwer belastet zu sein, große Ängste zu haben, in einem Gefühl stetiger Bedrohung zu leben. Sie leiden unter körperlichen Stresssymptomen und massiven Schlafstörungen. So können derlei Erlebnisse Sorgen, Belastungen, Ängste und (körperliche) Beschwerden auslösen. Weiterhin sind sie verantwortlich für Schutz- und Vermeidungsverhalten. Viele verbergen nach Außen ihre jüdische Identität. Gerade auch junge Eltern stehen vor dem Dilemma, wie sie das Leben ihrer Kinder organisieren und schützen können. Viele Eltern trauen sich aus Angst vor möglichen Anschlägen nicht, ihre Kinder in Einrichtungen und Schulen zu schicken. Gerade in den Familien von Holocaust-Überlebenden kann dies schreckliche Erinnerungen an frühere Verfolgung re-aktualisieren, bis hin zu regelrechten Retraumatisierungen.

In unserer Projektarbeit sind wir dadurch mit einer gänzlich neuen Situation konfrontiert. Für Jüdinnen und Juden und Nachfahren von Überlebenden der Shoah ist die Welt seit dem siebten Oktober eine andere geworden. Ganz konkret erleben wir dabei u.a. einen signifikant erhöhten Bedarf an Beratungen, Kriseninterventionen oder auch einfach Gesprächen.

Veranstaltungen

Publikationen

Keine Nachrichten verfügbar.

Kontakt

Dr. phil. Kurt Grünberg

Verbundkoordination
Sigmund-Freud-Institut
Myliusstr. 20
60323 Frankfurt am Main

Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel

Verbundpartnerin
Technische Universität Berlin
Institut für Sprache und Kommunikation
Fachgebiet Allgemeine Linguistik
Hardenbergstr. 16-18

10623 Berlin

Prof. Dr. Sarah Yvonne Brandl

Verbundpartnerin
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Abteilung Münster
Fachgebiet Sozialwesen
Piusallee 89

48147 Münster