Net Olam - Jüdische Friedhöfe im Fokus von Antisemitismus und Prävention

Interview mit den Mitgliedern des Verbundprojektes über Ansatz, Zwischenergebnisse und Ziele

FoNA21: Wir sprechen mit Cordula Lissner, Helge-Fabien Hertz, Katrin Keßler und Elisabeth Singer-Brehm aus dem Verbundprojekt Net Olam, das sich mit der Schändung jüdischer Friedhöfe seit 1945 befasst und diese im Fokus von Antisemitismus untersucht.

Herr Hertz, können Sie ein bisschen das Ausmaß und die Heterogenität der Fälle von 1945 bis heute erläutern?

Hertz: Als erstes Zwischenergebnis haben wir jetzt schon über 2.000 Schändungsfälle seit 1945 dokumentiert. Diese Zahl wächst von Tag zu Tag weiter an; es handelt sich um ein Phänomen mit wirklich enormem Ausmaß. Das ist sicherlich ein zentrales Zwischenergebnis. Ein anderes ist die Heterogenität der Fälle, die man anhand von zwei Fallbeispielen deutlich machen kann. Es handelt sich um die Fälle Geilenkirchen und Westerrönfeld.

Lissner: Geilenkirchen spielte für uns hier in Nordrhein-Westfalen und gerade auch in Essen eine große Rolle. Das ist in der Nähe von Aachen. Die Tat war im Dezember 2019 verübt worden. Es ist ein Ausnahmefall, dass die Täter so schnell ergriffen werden, sodass der eindeutig rechtsextreme Hintergrund relativ schnell erhellt werden konnte. Es handelte sich um zwei Neonazis, die auch in einschlägigen Organisationen aktiv und der Polizei bekannt waren. Und dass es tatsächlich zu einem Prozess und zu einer Verurteilung kam, das kommt selten vor. Die meisten Grabschändungen bleiben unaufgeklärt. Und so ist Geilenkirchen, ein eindeutig rechtsextremer Fall mit Aufklärung, mit Prozess und dann auch noch mit der Besonderheit, dass die Stadt selbst als Adhäsionsklägerin aufgetreten ist und dass die Zivilgesellschaft in diesem Prozess auch sehr präsent war, wichtig.

Hertz: Das Spektrum reicht von diesen wirklich eindeutig antisemitischen Straftaten über solche Fälle, wo die Hintergründe völlig unklar bleiben, die unaufgeklärt sind, bis hin zu Fällen, bei denen Antisemitismus wahrscheinlich gar nicht das primäre Tatmotiv war. Für diesen letzteren Fall ist Westerrönfeld ein gutes Beispiel, was den anderen Randbereich dieses komplexen Phänomens verdeutlicht.[1] Die Zufahrtsstraße zu dem Friedhof gehört einem Privatmann und Ende des Jahres 2020 hat er auf seiner Zufahrtsstraße eine Zaunanlage errichten lassen, sodass der jüdische Friedhof nicht mehr zu betreten war. Eine neue Dimension gab es im Frühjahr 2022, da hat er dann noch auf seiner Zufahrtsstraße drei massive Garagen-Container platziert. Viele verschiedene Personen und Organisationen haben sich in dem Fall engagiert. Zunächst natürlich der jüdische Landesverband, der Eigentümer des Friedhofs ist, aber auch der Antisemitismusbeauftragte von Schleswig-Holstein, die politische Gemeinde und der Kreis – alle waren involviert und haben versucht, eine Lösung zu finden. Das war erst nach zwei Jahren möglich, nach sehr zähem Hin und Her. Man hat herausgefunden, dass das Ganze genehmigungspflichtig gewesen wäre, der Eigentümer aber die Genehmigung nicht eingeholt hatte. Nur deshalb konnte das Ganze dann entfernt werden. Für uns ist der Fall aus zwei Gründen spannend. Einmal, weil er diese Heterogenität aufzeigt: Antisemitismus war hier scheinbar gar nicht das vordergründige Motiv, sondern es ging um finanzielle Motive. Der Eigentümer hat versucht, die Zufahrtsstraße sehr gewinnbringend zu verkaufen. Nichtsdestotrotz handelt es sich aber um eine Schändung, denn über fast zwei Jahre lang war der Friedhof gar nicht oder kaum zu betreten und konnte auch nicht gepflegt werden.

Der Fall war für uns aber noch aus einem zweiten Grund interessant, weil wir da sehen, dass verschiedene Stellen über zwei Jahre hinweg versucht haben, eine Besserung herbeizuführen. Es gab offenbar keine „Roadmap“, keine Blaupause, an der man sich orientieren konnte. Genau das ist unser Ziel, weil ein Netzwerk, auf dessen Expertise man hätte zurückgreifen können, eben sehr hilfreich gewesen wäre. Ein solches Netzwerk gab es aber noch nicht, und das ist ja etwas, was wir jetzt im Rahmen des Projekts auch aufbauen wollen.

FoNA21: Können Sie ein bisschen erläutern, wo sie Ihre Daten suchen beziehungsweise finden, in welchen Archiven? Wie Sie den Kontakt aufbauen zu den Kommunen?

Singer-Brehm: Ich bin tatsächlich sehr, sehr viel in Archiven unterwegs, was auch ein bisschen daran liegt, dass wir in Bayern in den letzten Jahren relativ wenige Friedhofsschändungen hatten. Das heißt, ich kann mich mehr auf das Historische konzentrieren. Wir hatten im letzten Spätsommer, ich glaube Anfang September war es, einen Fall in Oberfranken, wo es ein frustrierter Jugendlicher war, der Steine umgeworfen hat – auch das ist ein Phänomen, auf das wir sehr oft stoßen –Jugendliche, die ohne direkt antisemitischen Hintergrund Friedhöfe demolieren, um da ihren Frust abzulassen, wo man sich auch fragt: Täten sie das auf christlichen Friedhöfen genauso oder warum wählen sie die jüdischen Friedhöfe? Was steckt da dahinter? Das ist ein Phänomen, mit dem wir uns noch viel auseinandersetzen werden, wo aber auch schon in den Akten gerätselt wird, warum ist das so? Was kann man tun? Kann man die Schulen einbeziehen? Das passt dann wieder zu unserem Ansatz der Prävention.
Ja, aber welche Archive? Ich habe begonnen mit den Staatsarchiven und im Hauptstaatsarchiv in Bayern, weil sich dort die Akten sammeln aus etwa den Landratsämtern, in deren Zuständigkeitsbereich die Friedhöfe fallen, und darin findet man sehr viel Material. Es ist leider nicht extra sortiert nach Friedhofsschändungen, sondern in den Konvoluten entweder zu den Friedhöfen oder, wie das immer so schön heißt, „jüdischen Angelegenheiten“. Das heißt, man liest sich durch die gesamte Geschichte der jüdischen Gemeinden, um zwischendrin die einzelnen Blätter zu den Schändungen zu finden. Auch sehr wichtig sind die Akten, die sich mit Instandsetzungen der Friedhöfe beschäftigen, weil man daraus oft Rückschlüsse auf Schändungsereignisse ziehen kann, die anders nicht dokumentiert sind. Gerade der Zustand der Friedhöfe nach der NS-Zeit. Ganz oft sind für diese Zeit keine exakten Daten überliefert. Aber man kann aus den Akten erschließen: Wie sahen die Friedhöfe aus? Was musste wieder hergerichtet werden? Wie wurde es wieder hergerichtet? Oft erstmal notdürftig, dann fielen die Steine in den nächsten Jahren teilweise auch von selber um, weil sie nur so grob hingestellt wurden. Dann müssen Diskussionen geführt werden, welcher Stein ist jetzt mit Absicht erneut umgeworfen worden? Welcher ist von selbst umgefallen? Das zieht sich fast bis in die 70er Jahre hinein, bis die Friedhöfe wieder in einem stabilen Zustand waren und man auch wieder klarer sagen kann, der war wirklich ordentlich zu diesem Zeitpunkt und erneut umgeworfene Steine sind auf Gewalteinwirkung zurückzuführen.

Auch in den kommunalen Archiven lassen sich Dokumente finden, die noch gar nicht bis in die Staatsarchive gekommen sind. Und was wir jetzt als nächstes ins Auge gefasst haben sind die speziell von jüdischer Seite gesammelten Akten im Zentralarchiv in Heidelberg.

FoNA21: Bis in die 70er Jahre wurden die Friedhöfe wieder mehr oder weniger hergestellt. Wer hat sich denn darum gekümmert, die Kommunen oder Rückkehrende, jüdische Überlebende, Familien der ehemaligen jüdischen Bewohner?

Singer-Brehm: Auch das ist schwierig. Oft gab es zum Kriegsende direkt gewissermaßen panische Wiederherstellungen. Die Kommunen versuchten, bevor die Amerikaner kamen – in Bayern sind es ja die Amerikaner – die Friedhöfe in einen halbwegs ordentlichen Zustand zu bringen, weil sie Angst hatten, dass die Amerikaner Rückschlüsse ziehen würden. Also wurden die Steine oft ohne Sinn und Verstand wieder aufgestellt, gerade, wenn die Friedhöfe völlig abgeräumt waren, stellte man die Steine irgendwo wieder hin. Es gab dann keinen Bezug mehr zwischen Grabstätte und Grabmal. Es war ein wildes Durcheinander, sah aber oft unglaublich ordentlich aus. Daran erkennt man diese Friedhöfe, wenn da alles in sauber geordneten Reihen steht, ist das immer sehr verdächtig. Teilweise ordneten auch die Amerikaner Wiederherstellungen an, wenn sie an einen Ort kamen und die Friedhöfe noch wüst aussahen. Das sind die Dinge, die 1945 schon passieren und oft nicht allzu lange Bestand hatten. Schon 1946/47 brachen diese ersten Wiederherstellungen oft wieder zusammen. Und dann wurde es so langsam in geordnetere Bahnen gelenkt, es wurden Pläne gemacht, Kostenvoranschläge wirklicher Baufirmen eingeholt, die wiederherstellen und die Mauern wieder aufbauen sollten, dass die Friedhöfe auch wieder geschützt waren. Auch Tore sollten wieder eingebaut werden. Die Akten ziehen sich in die 1950er, teilweise 1960er, denn das waren große Maßnahmen, die auch richtig Geld kosteten. Aber es musste auch geklärt werden, wie das finanziert wird, wer das bezahlt. Die jüdischen Gemeinden waren ja in dieser Zeit nicht finanzstark und natürlich war es auch gar nicht in ihrer Verantwortung, denn die Schäden hatten andere angerichtet. Es war ein langer Prozess. Nun wurden auch die Landesverbände mit einbezogen in die Planungen. Vorher waren es oft lokale Kräfte, die DP-Gemeinden (DP = Displaced Persons, Anm. d. R.) manchmal, die auch Ehrenmale errichten ließen, wo es später oftmals Diskussionen gab, ob sie denn so passend seien. Aber ihnen war das ganz wichtig natürlich und man kann grob sagen: Am Anfang war alles etwas unsortiert und es wurde dann immer systematischer und geplanter.

Lissner: Ich könnte dazu noch etwas ergänzen in Bezug auf „Wie kümmerten sich die Überlebenden nach 1945 um die Friedhöfe“. Wir sehen, dass diese im „Dritten Reich“ zerstörten Friedhöfe für die Überlebenden doch eine sehr große Bedeutung hatten, gerade in der allerersten Nachkriegszeit bis hinein in die 50er Jahre. Es waren die einzigen Orte, die sie noch hatten. Die Synagogen waren zerstört, die Gemeindezentren waren zerstört, der Friedhof war aber noch ein Ort, der zu der früheren Gemeinde am Ort gehört hat. Deshalb waren diese frühen jüdischen Gemeinden, aber auch einzelne Überlebende, die aus dem Exil oder aus dem Versteck zurückkamen, sehr besorgt um diese Friedhöfe. Wir sehen sehr, sehr viele Eingaben von Besorgnis, von Anklagen und von Forderungen, diese Friedhöfe wieder instand zu setzen und zu schützen. Das zieht sich etwa durch die ganzen ersten 15 Jahre des Jüdischen Gemeindeblatts für die Britische Zone, später der Jüdischen Allgemeinen – immer wieder war Friedhofsschändung ein ganz großes Thema der Anklage. Aber der Friedhof war eben auch ein Ort, an dem man Gedenksteine errichtet, an dem sich Überlebende versammelten, oft auch gemeinsam mit alliierten Militärrabbinern, um an die Shoah zu erinnern und Gedenken einzufordern. Das entwickelte sich dann in späteren Jahren ganz anders. Aber in dieser Nachkriegszeit war es ein ganz wichtiges Thema, die jüdischen Friedhöfe wieder herzurichten und zu schützen. Ab Ende der 1950er Jahre wurden dann die meisten Friedhöfe über die Jewish Restitution an die Landesverbände restituiert. Die Landesverbände sind dann die Eigentümer der verwaisten jüdischen Friedhöfe, wobei die politischen Gemeinden dafür zuständig waren und sind, sie zu pflegen. Das ist dann auch, ich glaube, noch ein bisschen verschieden nach Ländern geregelt.[2]

FoNA21: Haben Sie auch Daten zur Lage in der DDR?

Lissner: Zur DDR gibt es tatsächlich eine umfangreiche Untersuchung von Monika Schmidt.[3] Ein entsprechendes Buch gibt es für die Bundesrepublik bisher nicht.

FoNA21: Die DPs waren ja in der Regel keine deutschen Überlebenden und haben sich trotzdem um die Friedhöfe gekümmert, obwohl da niemand lag, den sie kannten?

Lissner: Ja, das sehen Sie richtig und dazu weiß Frau Singer-Brehm viel, weil es viel größere DP-Camps in Bayern gab. Aber in Niedersachsen gab es zum Beispiel Bergen-Belsen und da ist das auch so. In der Lagerzeitung wurden Friedhofsschändungen immer angeprangert und es wurden Gräber errichtet und gepflegt, und aus der DP-Community heraus kümmerte man sich darum.

Singer-Brehm: Dadurch, dass Flossenbürg und Dachau mit die letzten bestehenden Konzentrationslager waren und dorthin viele Häftlinge aus den anderen Lagern getrieben wurden, gab es in Bayern natürlich sehr viele Todesmarsch-Tote, die zunächst überall an den Straßenrändern, auf kommunalen Friedhöfen, einfach überall lagen. (Elisabeth Singer-Brehm: Grabstätten jüdischer Todesmarsch-Opfer im Landkreis Wunsiedel , in: Colloquium Historicum Wirsbergense (Hrsg.): Geschichte in Franken 4, Lichtenfels 2023, S. 111-124.) Und auch da setzten sich die DP-Gemeinden dafür ein, dass sie teilweise auf die jüdischen Friedhöfe umgebettet wurden. Es war auch den DP-Gemeinden sehr wichtig, obwohl es nur selten direkte Angehörige waren. Deswegen kümmerten sie sich ganz intensiv, solange sie noch dablieben, solange die DP-Gemeinden bestanden, dass das gepflegt und eingerichtet wurde.

Keßler: Eine Gruppe, die sich auch sehr dafür eingesetzt hat, waren die geflohenen Juden in der ganzen Welt. Sie sind entweder in ihre Heimatstädte gekommen und haben dort den Friedhof vorgefunden, so wie er war, und haben dann sofort bei Bürgermeistern und Behörden Eingaben gemacht und zum Teil sogar Geld gegeben zur Wiederherstellung des Friedhofs. Also gerade in den frühen Jahren sind das ganz oft Überlebende, Emigrierte, die den Anstoß gegeben haben, dass der Friedhof wiederhergestellt wurde.

Hertz: Vielleicht noch eine Ergänzung zu den Akten, vielleicht auch zur Einordnung. Ein Zwischenergebnis ist auch, dass wir am Ende des Projekts mit Sicherheit den umfassendsten Datenbestand zu diesen Phänomenen haben werden, aber dass eine lückenlose Dokumentation nicht möglich sein wird. Das hat verschiedene Gründe. Einer ist ganz pragmatisch, dass längst nicht alle Taten angezeigt werden, längst nicht alle Taten in die Presse gelangen. Ein anderer Grund ist, dass es eine Reihe von Fällen gibt, die sich wirklich nur in Archivakten wiederfinden und das ist eine Recherche, die für das ganze Bundesgebiet nicht zu realisieren sein wird. Da bräuchten wir zehnmal so lange und deshalb legen wir Schwerpunkte im Projekt fest. Wir haben natürlich Bayern und Niedersachsen als Schwerpunkte und wir haben am Steinheim-Institut neben Nordrhein-Westfalen auch Schleswig-Holstein.

Und inhaltlich vielleicht noch eine Ergänzung: Es ist spannend, wenn man sich die Ministerial- und Gerichtsakten anguckt, wie von offizieller Seite mit den Schändungen in der Nachkriegszeit umgegangen wurde, von Seiten der Polizei und der Ministerien. Das ist schon bedenklich, kann man sagen. Sehr, sehr häufig wurden spielende Kinder ausgemacht, die es in einzelnen Fällen tatsächlich auch waren. Aber das ist etwas, worauf sich sehr gerne konzentriert wurde. Auch in vielen anderen Fällen wurde dann vermutet, das werden sicherlich spielende Kinder gewesen sein, von Antisemitismus wollte man von offizieller Seite nicht sprechen in dem Zusammenhang, und das scheint dann auch die Ermittlungen entsprechend zu kennzeichnen.

Natürlich hat ein Umdenken stattgefunden, wenn man das mit heute vergleicht, das ist für uns jetzt noch schwer zu sagen, man könnte vielleicht als ersten Ansatz die 1980er Jahre benennen. Wichtig war der Generationenwechsel in den Behörden. In den Achtzigern kommt dieser Wechsel auf Landesebene, auch auf kommunaler Ebene, und das ist wichtig, dass man die Fälle dann anders betrachtet und auch ein Stück weit ernster nimmt.

FoNA21: Wie gestaltet sich denn der Aufbau des Netzwerks Net Olam?

Lissner: Das Steinheim-Institut hat durch seinen schon jahrzehntelangen Schwerpunkt in der Epigraphik, also in der Erforschung jüdischer Grabmäler, ihrer Inschriften und damit auch der Friedhöfe (obwohl der Fokus auf den Grabinschriften liegt) über viele Jahre sehr viele Kontakte zu örtlichen Initiativen aufgebaut, die sich um die Friedhöfe kümmern. Das sind sowohl Lokalhistoriker:innen als auch Kirchengemeinden. Es besteht eine große Heterogenität an Initiativen, die sich um einen örtlichen jüdischen Friedhof kümmern. Aus dieser jahrelangen Arbeit heraus gibt es also schon einen Grundstock an Ansprechpersonen. Diese Arbeit geht im Steinheim-Institut auch weiter, sodass immer neue potentielle Bündnispartner hinzukommen. Zur Bet Tfila – Forschungsstelle gab es auch schon langjährige Kontakte und Kooperationen, ebenso wie zum Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege über diese epigraphischen Projekte.

Keßler: Wir hatten im Jahr 2022 Kick-off-Veranstaltungen in unseren drei Bundesländern, zu denen sehr viele Personen zusammengekommen sind, die wir über unser Projekt informiert haben und die dann auch in unserem Verteiler Mitglied geworden sind. Wir unterhalten außerdem einen Blog[4], auf dem wir regelmäßig über unser Projekt und über unsere aktuellen Schritte berichten. Und wir konnten im vergangenen Jahr bei der Bund-Länder-Konferenz der Antisemitismusbeauftragten das Projekt vorstellen und haben darum gebeten, dass wir die Informationen auch nochmal über deren Verteiler streuen dürfen.

FoNA21: Handelt es sich bei Ihren Zielgruppen vor allem um Kommunalverwaltungen oder um Ehrenamtliche?

Keßler: Sowohl als auch, also das, was wir als „Kümmerer“ bezeichnen. Es sind Kommunalbeauftragte und Ehrenamtliche, ganz häufig aber auch Lehrer:innen, die sich für jüdische Friedhöfe interessieren, sich darum kümmern, zum Teil gemeinsam mit Schulklassen. Aber es sind natürlich auch kirchliche Gruppen etc. Es sind ganz verschiedene Personenkreise.

FoNA21: Inwieweit sind jüdische Friedhöfe für Bildungsaktivitäten zur Antisemitismusprävention nutzbar?

Keßler: Wir planen in der Tat, Handreichungen zu erarbeiten, einerseits für die Nutzung in Schulen, andererseits kann es sinnvoll sein, den Kommunen solche Handreichungen an die Hand zu geben. Wobei da natürlich in den letzten Jahren auch schon viel passiert ist, schon viel mehr Wissen da ist als in der Nachkriegszeit. Schulprojekte gibt es ungefähr seit den späten 1960er Jahren. Da haben sich noch sehr vereinzelte Schulen oder kirchliche Gemeinden, zum Teil auch Sportvereine, ganz unterschiedlich und meist nicht langfristig um jüdische Friedhöfe gekümmert.[5] Dauerhaftes Engagement scheint erst 1988 mit dem fünfzigsten Jahrestag der Pogromnacht eingesetzt zu haben, als nochmal viel stärker der Fokus auf den Themen jüdische Kultur und Shoah lag. Wo dann auch viel Wissen erarbeitet wurde in den verschiedenen Orten. Das war das Jahr, in dem es die ersten Publikationen gab zu jüdischen Gemeinden und dann auch zu den Friedhöfen. Das hat sehr viel in der Sichtbarkeit der Friedhöfe bewirkt und auch in der Pflege.

FoNA21: Sie hatten vorhin auf den Ewigkeitsgedanken der jüdischen Friedhöfe hingewiesen. Auch andere Verbundprojekte kümmern sich um die Kulturvermittlung und versuchen, nicht nur den Holocaust in den Vordergrund zu stellen. Inwieweit bieten sich denn jüdische Friedhöfe für diese Kulturvermittlung an?

Keßler: Zur Kulturvermittlung kann ich sagen, dass sich jüdische Friedhöfe natürlich sehr gut gerade für Schulklassen eignen. Man hat einerseits einen authentischen Ort, einen jüdischen Friedhof gibt es ja in fast jeder Stadt. Wenn es dann auch noch Grabsteine gibt, dann hat man auch gleich einen Anknüpfungspunkt, man kann recherchieren, welche Familien zur jüdischen Gemeinde dazu gehört haben. Man kann herausfinden, wo diese Familien gewohnt, was sie gearbeitet haben und so weiter und sowas ist natürlich für Schülerprojekte ganz wunderbar. Außerdem kann so Wissen über das Judentum an sich vermittelt werden, über die Rituale und Bräuche vor allem im Bestattungsbereich. Es ist eine Möglichkeit, um Schüler zu beteiligen und in die Geschichte einzuführen. Perspektivisch planen wir deshalb auch Schulungen und Fortbildungen für Lehrkräfte.

Was den Ewigkeitsgedanken angeht, habe ich das Gefühl, dass dieses Wissen immer noch nicht in der Bevölkerung angekommen ist. Ein Problem ist auch, dass sich zumindest in der Vergangenheit auch die Behörden dieses Themas nicht bewusst waren. Da passierten dann Begebenheiten wie in den 80er Jahren auf dem Friedhof in Beeskow in Brandenburg: Der Friedhof war scheinbar in der Zeit des Nationalsozialismus nicht geschändet worden und in den 60er Jahren haben dann offenbar Schüler die Grabsteine umgeworfen. Statt sie am Ort wieder aufzurichten, hat man sich entschieden, diese Grabsteine doch zu einem „schönen Denkmal“ in der Mitte des Geländes zu arrangieren, sodass man jetzt nicht mehr weiß, wo welcher Grabstein gestanden hat. Fast keiner ist mehr an seinem originalen Ort. Das ist vielleicht gut gemeint gewesen, bestimmt kann man jetzt auch besser mähen und es sieht für nichtjüdische Besucher vielleicht schöner aus, nicht so unordentlich, wie man sagte. Aber dieses Wissen darum, dass es wichtig ist, dass dieser Grabstein für ewige Zeit an dem Ort der Bestattung steht, das hat eben gefehlt. Heute würde man es vermutlich anders machen.

Hertz: Die Friedhöfe sind auch deshalb so relevant, weil sie das einzige Kulturzeugnis sind, das mehr oder weniger überdauert hat. Nach 1945 sind die jüdischen Friedhöfe, obwohl auch sie in der NS-Zeit massiv geschändet und zerstört wurden, oft das Einzige, was noch auf die lange Geschichte von Jüdinnen und Juden in Deutschland hinweist, was davon zeugt. Das ist sicherlich ein herausragender Wert, dessen sich viele gar nicht bewusst sind, wenn man damit nicht in Berührung gekommen ist. Friedhöfe halten ganz viele verschiedene Aspekte bereit, die für die Kulturvermittlung, für Erinnerungskultur wichtig sind.

Ein interessantes Thema für uns ist auch, dass man auf relativ vielen jüdischen Friedhöfen kommunale Gedenktafeln findet. Man sollte sich das mal bewusst machen, dass kommunale Gedenktafeln nach 1945 bevorzugt auf einem nicht-öffentlichen, jüdischen Friedhof platziert wurden anstatt etwa vor dem Rathaus. Da gibt es viele Dinge, über die man stolpern kann, wenn man wachen Auges über einen jüdischen Friedhof geht und wenn man eben auch Leute an der Seite hat, die auf solche Irritationen hinweisen.

Lissner: Zuerst versuchten die Kommunen, das Gedenken auszulagern. Wir haben ja festgestellt, dass es nach 1945 zuerst die Überlebenden waren, die Gedenksteine auf den jüdischen Friedhöfen errichteten. In späteren Jahrzehnten versuchten die Kommunen aber, das so ganz exterritorial an den Rand ihrer Städte zu stellen statt es mitten in die Städte hineinzuholen.

Keßler: Ich kann zum Gedenken auf jüdischen Friedhöfen noch andere Beispiele ergänzen. U.a. in Illingen im Saarland hat man den Friedhof nicht nur zum Gedenken an die jüdische Gemeinde, sondern auch an die Synagoge genutzt. Die Synagoge wurde erst 1949 abgerissen. Und dabei hat man Teile der Synagogeneinrichtung, also Säulen und den Toraschrein-Aufsatz auf den jüdischen Friedhof gebracht, um dort einen Gedenkort für die Synagoge, die ja aber in der Mitte der Stadt stand, zu errichten. An deren Stelle hat man dann einen Parkplatz gebaut und einen kleinen Gedenkstein aufgestellt, der nicht sehr auffällt. Auf dem Friedhof, der natürlich nicht im Blick und im Bewusstsein der Bevölkerung war, hat man diesen Gedenkort für die Synagoge errichtet. Das war 1949, das hat sich dann aber in den späteren Jahren wieder gewandelt und man hat dann Teile dieser Erinnerung an die Synagoge wieder in die Stadt zurückgebracht.

FoNA21: Ich erinnere mich, dass in Regensburg teilweise jüdische Grabsteine mitten in der Stadt in Hauswänden sichtbar verbaut sind. Ist das nur in Regensburg so und gibt es da Überlegungen, wie man damit umgeht?

Singer-Brehm: Ich habe gerade schon überlegt, auf die Frage zu antworten, ob die Leute sich dessen bewusst sind, dass das für die Ewigkeit ist. Im Christentum ist es nicht unüblich, Grabsteine weiterzuverwenden wenn Gräber aufgelöst werden. Die Menschen haben also kein großes Bewusstsein, dass das etwas Verkehrtes ist. Dieser Recycling-Gedanke von Grabsteinen ist den Leuten nicht fremd, wodurch er wohl oft nicht explizit mit antisemitischen oder Schändungsgedanken verbunden ist. Das ist dann eher die Gelegenheit, die man nutzt. Anders ist es – gerade aus der NS-Zeit kennt man ja viele Beispiele, wo die Grabsteine sichtbar für den Straßenbau verwendet wurden – wenn die Grabsteine ganz deutlich zur Schau gestellt wurden, um darüber zu laufen. Da wird ein aktives antisemitisches Schänden deutlich. Und um jetzt zu den mittelalterlichen Grabsteinen zurückzukommen, da haben wir auch wieder beides: In Würzburg, wo sie unsichtbar verbaut waren und später entdeckt wurden; aber in Regensburg wollte man sie offen zeigen. Auffällig ist auch, dass sich die Grabsteine nicht nur in Regensburg finden, sondern in einem Umfeld einer bestimmten Wallfahrt, also so, als hätten die Wallfahrer die Grabsteine als Trophäen nach Hause mitgenommen und dann dort aufgestellt. Das ist ein völlig anderer Aspekt, das ist keine einfache Weiterverwendung, sondern das enthält eine Botschaft, einen Hintergedanken.

Teilweise wird heute gefordert, diese Steine herauszunehmen und auf die Friedhöfe zurückzubringen. Dazu gibt es verschiedene Meinungen. Was ist der richtige Umgang damit? Jeder sieht das etwas anders, ähnlich wie die Diskussionen, auch in Regensburg, um die „Judensau“: Soll sie weg, soll eine Tafel dazu, soll man es belassen, wie es ist? Es ist sehr schwierig, einen Konsens zu finden, was tatsächlich richtig ist.

FoNA21: Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.

Cordula Lissner ist Historikerin und noch bis Juli 2023 wissenschaftliche Geschäftsführerin im Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.

Helge-Fabien Hertz, Historiker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.

Katrin Keßler, Architekturhistorikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bet Tfila – Forschungsstelle für jüdische Architektur, Technische Universität Braunschweig.

Elisabeth Singer-Brehm, Volkskundlerin und Judaistin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege in Bamberg.


[1] Siehe dazu: Helge-Fabien Hertz: Net Olam. Jüdische Friedhöfe im Fokus von Antisemitismus und Prävention. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 104 [Frühjahr 2023], S. 13–25. URL: https://geschichte-s-h.de/wp-content/uploads/2023/04/MGSHG-104_Fruehjahr_2023.pdf; vgl. auch den Eintrag „Ab wann ist es eine Schändung? Die Causa Westerrönfeld“ im Blog Net Olam vom 17.04.2023. URL: https://netolam.hypotheses.org/1400.

[2] Details dazu, wie die Pflege der jüdischen Friedhöfe in Deutschland geregelt wurde, finden sich bei: Andreas Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland 1933–1957. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 [2002], S. 31–40.

[3] Monika Schmidt: Schändungen jüdischer Friedhöfe in der DDR – Eine Dokumentation. Berlin 2007.

[4] https://netolam.hypotheses.org/

[5] Vgl. Katrin Keßler: „Das erste Zeichen einer Wiedergutmachung“? Nichtjüdisches Engagement auf jüdischen Friedhöfen seit 1945. In: Kalonymos 25, 2–4 (2022), S. 9–12. URL: https://steinheim-institut.org/sti_files/files/kalonymos-2022_2-4-online.pdf; siehe auch den entsprechenden Eintrag im Blog Net Olam vom 17.04.2023. URL: https://netolam.hypotheses.org/1349.

Dr. Cordula Lissner

Elisabeth Singer-Brehm

Dr. Helge-Fabien Hertz

Dr.-Ing. Katrin Keßler