„Der Einschnitt nach dem 7. Oktober ist groß.“ Differenzkonstruktionen und Antisemitismus im Kontext von jüdischen Schulen im Fokus

Interview mit Dr. Karen Körber und Susanna Kunze über das Verbundprojekt "Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit" (RelcoDiff) und erste Ergebnisse und Erkenntnisse aus dem Teilprojekt "RelcoDiff_jüdisch".

FonA21: Wir freuen uns, heute mit Dr. Karen Körber, der Projektleiterin des Verbundprojekts „Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit“ (RelcoDiff) und ihrer Mitarbeiterin Susanna Kunze ein Gespräch über ihr Teilprojekt führen zu können. 

Körber: Das Projekt RelcoDiff beschäftigt sich anhand von drei Teilprojekten mit Antisemitismus und Differenzkonstruktionen in verschiedenen pädagogischen Kontexten. Wir beschäftigen uns in einem Projekt mit dem Religionsunterricht an Hamburger Grundschulen, in einem anderen mit Antisemitismuserfahrungen von Kindern im Kontext von Kitas – das ist das Frankfurter Projekt – und in unserem eigenen, dritten Teilprojekt mit der Erfahrung von Differenzkonstruktionen und Antisemitismus im Kontext von jüdischen Schulen an den Fallbeispielen Frankfurt/Main, Hamburg und Köln. Das Projekt, das am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg im Bereich der Jüdischen Gegenwartsforschung angesiedelt ist, wird gemeinsam von Susanna Kunze und mir durchgeführt. Wir haben drei Grundschulen in verschiedenen Städten ausgesucht, die jeweils als Schulen unterschiedliche Schulprojekte und -konzepte verfolgen. Zudem stehen die Schulen exemplarisch für unterschiedliche Gründungsgeschichten, in denen sich Veränderungen der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte bis in die jüngste Gegenwart widerspiegeln. In Frankfurt wurde in den 1960er Jahren die erste jüdische Schule nach der Shoah gegründet, während in Köln und in Hamburg erst in den 2000er Jahren Schulen in der Folge der jüdischen Migrationen aus den postsowjetischen Staaten und aus Israel eingerichtet worden sind. Insofern beschäftigt sich unser Projekt zum einen mit den neuen Entwicklungen im Bereich der jüdischen Bildung, die in den letzten 20 Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Zum anderen, und das ist zentral für die Fragestellung des Projekts, geht es darum, was es für jüdische Kinder bedeutet, im Kontext der jüdischen Schulen einmal in der Mehrheits- und nicht in der Minderheitsposition zu sein. Wir haben mit Schulleitungen, Lehrer:innen, aber eben auch mit Eltern – sowohl von jüdischen Kindern als auch von nichtjüdischen Kindern – sowie mit Schülern und Schülerinnen über ihre Erfahrung an den Schulen gesprochen. Gefragt wurde nach den Schulwahlmotiven und nach Erfahrungen mit Antisemitismus und was der Raum der jüdischen Schule für die Schülerinnen und Schüler selbst bedeutet. 

FonA21: Und wo steht ihr jetzt im Projekt, zwei Jahre, nachdem es begonnen hat? 

Körber: Wir sind seit dem letzten Frühherbst, also seit August/September, mit der Forschungsphase durch, haben die Feldforschung an den drei Schulstandorten abgeschlossen und sind jetzt in der Auswertung. 

FonA21: In vielen Projekten des Forschungsnetzwerkes hat sich ja einiges geändert seit dem 7. Oktober. Das war ja sicher für eure Forschung beziehungsweise für die Schulen, die ihr untersucht habt, ebenso der Fall. 

Körber: Da wir die Forschung bereits abgeschlossen hatten, haben wir keine Forschungsergebnisse mehr, die sich auf den Zeitraum nach dem 7. Oktober beziehen. Wir haben jedoch zu Beginn des neuen Jahres 2024 noch einmal das Gespräch mit den Schulleitungen und Bildungsreferent:innen der Jüdischen Gemeinden sowie einzelnen Lehrer:innen gesucht, um zu erfahren, was sich mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum 7. Oktober ihrer Wahrnehmung zufolge geändert hat. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Einschnitt groß ist, auch wenn die Schulleitungen sehr bemüht waren und sind, innerhalb der eigenen Räume die Situation der letzten Monate bestmöglich aufzufangen. In den ersten Wochen war es vor allem die Angst der Eltern und der Kinder vor dem Schulweg und dem Betreten/Verlassen des Schulgeländes, die große Ängste ausgelöst hat. Die Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder hat viele Eltern dazu veranlasst, ihre Kinder unmittelbar in den ersten 14 Tagen nach dem 7. Oktober gar nicht oder nur mit dem eigenen Auto zur Schule zu bringen. Und noch mal strikter als vorher schon darauf zu achten, dass etwa alle Zeichen, die auf Zugehörigkeit, auf das Jüdisch-Sein verweisen könnten – also Kippa, Davidstern tragen – nicht gezeigt, verdeckt oder abgelegt werden, damit eine mögliche Gefährdung reduziert wird. 

Das ist etwas, wovon mir viele Eltern in privaten Kontakten berichtet haben. Die Schulleitungen haben vor allen Dingen davon berichtet, dass viele Kinder in diesen Tagen nicht zur Schule gekommen sind. Das gilt in Teilen auch für Kinder an öffentlichen Schulen, beispielsweise die den jüdischen Religionsunterricht besuchen, oder die etwa zum 9. November abends eine Veranstaltung machen wollten. Da haben viele Eltern im letzten Jahr beschlossen, dass ihre Kinder nicht daran teilnehmen sollen. Einzelne haben sich dann im letzten Moment doch dafür entschieden. Es gibt eine große Verunsicherung und eine große Tendenz, möglichst in keiner Weise sichtbar zu werden – das ist etwas, was wirklich auffällig ist.

FonA21: Wie hat sich der 7. Oktober und alles, was danach kam, auf die jüdischen und die nichtjüdischen Schülerinnen und Schüler ausgewirkt? Beispielsweise die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen an den jüdischen Schulen. Hatten auch die nichtjüdischen Kinder auf einmal Angstgefühle? 

Körber: Da sprecht ihr einen interessanten Punkt an, denn tatsächlich haben erstmals in einem starken Maße auch die nichtjüdischen Familien den Eindruck gewonnen, dass die gesteigerte Gefahrenlage auch sie selbst, beziehungsweise die eigenen Kinder betrifft, weil sie diese Schulen besuchen. Ist insofern der Bedarf an gesteigerten Sicherheitsvorkehrungen nach dem 7. Oktober deutlich gewachsen, so taucht zugleich unter den nichtjüdischen Familien die Frage auf, wie sehr der gewachsene Antisemitismus auch sie betrifft und, damit verbunden, in welcher Weise sie sich im Nahostkonflikt positionieren müssen, weil dessen globale Folgen auch zur Bedrohung für die hiesigen jüdischen Schulen wird. 

FonA21: Wie werden die Sicherheitsvorkehrungen an jüdischen Schulen, die sich von staatlichen Schulen unterscheiden, von nichtjüdischen Eltern wahrgenommen und kommentiert? 

Körber: Es gab vor dem 7. Oktober eine große Tendenz, die hohen Sicherheitsmaßnahmen gewissermaßen zu normalisieren. Also das ist eine Schwelle, die genommen werden muss, das ist so. Aber es ist nichts, was etwa in den Elterngesprächen oder auch von den Schülern und Schülerinnen irgendwie, also in einer starken Weise problematisiert worden wäre. So berichteten die meisten Eltern, dass die jüdischen Schulen sich durch die Sicherheitsvorkehrungen zwar von staatlichen Schulen unterscheiden und dadurch schon besonders seien, zugleich sich ihre Kinder dadurch in einem besonders sicheren Raum bewegen würden. 

Kunze: Neben den Eltern, kommentierten auch interviewte nichtjüdische Schüler und Schülerinnen ihre Erfahrungen in Bezug auf die Sicherheitsvorkehrungen. Einige der nichtjüdischen Schüler: innen besuchen beispielsweise die Lichtigfeld-Schule in Frankfurt bereits seit der Grundschule. Für diese gehören die Sicherheitsvorkehrungen daher seit frühen Kindheitstagen zu ihrem Schulalltag und werden als Normalität wahrgenommen, während nichtjüdische Schüler:innen, die erst in der Mittelstufe auf die Schule wechselten, angaben, dass zu Beginn die Sicherheitsvorkehrungen für sie zunächst ungewohnt gewesen wären, aber auch sie sich schnell daran gewöhnt hätten und das für sie mittlerweile selbstverständlich zu ihrem Schullalltag dazugehört, was beispielsweise auch jährliche Sicherheitsübungen einschließe. 

Körber: Und im Hinblick auf Heranwachsende, wenn es dann später um die Frage geht, „kann man den Schulhof auch verlassen und kann man draußen was kaufen“, berichteten Eltern und Lehrkräfte, dass im Vergleich zu anderen Schulen, Probleme wie etwa Drogen an der Schule wenig Raum einnehmen. Das liegt daran, dass sich die Schulen zum einen durch eine familiäres Schulklima auszeichnen, was sich auch in einem engeren Verhältnis von Schüler: innen und Lehrer: innen sowie in einer engeren Betreuung der Kinder widerspiegele, und zum anderen durch die Sicherheitsvorkehrungen bestimmte Problemlagen nicht entstehen können, sozusagen als Side-Effekt dieser besonderen Sicherheitslage. Allerdings, vom Hören-Sagen kursiert das Gerücht, dass nichtjüdische Eltern jetzt noch mal stärker überlegen würden, ob sie ihre Kinder auf eine solche Schule schicken.

FonA21: Wie hat sich denn die Kontaktaufnahme mit den jeweiligen Schulen gestaltet? 

Körber: Um den Zugang zu verschiedenen Schulstandorten zu bekommen, sind wir über die Schulleitung gegangen, beziehungsweise zum Teil auch über die jüdischen Gemeinden, da sich die Schulen in Trägerschaft der Gemeinden befinden. Zumindest in Frankfurt und in Hamburg ist das der Fall, in Köln handelt es sich um eine durch die Ronald S. Lauder Foundation gestiftete Grundschule, die unabhängig von der Gemeinde agiert. In allen Fällen haben wir zunächst längere Gespräche mit den Schulleiterinnen geführt. Zum Teil sprachen wir auch noch mit Gremien der Gemeinde, etwa mit dem Schulbeirat. Wir legten dar, dass wir uns einerseits für die Geschichte der Schulen interessierten und andererseits für Erfahrungen von Differenz und Antisemitismus im pädagogischen Kontext. Dazu muss man vielleicht erläuternd hinzufügen, dass das Thema Antisemitismus nicht gerade etwas ist, das die Herzen der Schulleitungen und Gemeinden öffnet, aus nachvollziehbaren Gründen. Vielmehr gehen die Verantwortlichen bei solchen Anfragen erstmal auf Abstand und sagen: „Wir lassen hier nicht einfach Leute rein, weder Forschende noch Journalist: innen und schon gar nicht, um jetzt unsere Kinder nach ihren möglichen oder auch nicht gemachten Antisemitismuserfahrungen zu befragen.“ 

Denn zuallererst steht immer der Schutz der Kinder im Vordergrund. So haben die Schulleitungen in Hamburg und Frankfurt etwa berichtet, dass sie immer dann Anfragen von Journalist: innen erhalten, ob diese in die Schule kommen und jüdische Kinder interviewen könnten, wenn irgendwas passiert ist – sei es im sogenannten Nahen Osten oder eben in Deutschland – wenn es zu antisemitischen Vorfällen gekommen ist. Die Schulleitungen lehnen derartige Anfragen mit dem Anspruch ab, dass der Schulraum zuallererst ein Safe space für jüdische Kinder ist, den sie zu schützen haben. Berichte von Journalist: innen, die jüdische Schüler und Schülerinnen in eine Repräsentationsrolle drängen, sollen von den Kindern ferngehalten werden. Geht es dabei zuerst um den Schutz jüdischer Kinder, so verweisen beide Direktorinnen darauf, dass es sich bei ihren Schulen um gemischte Schulen handelt, in denen nicht nur die jüdische Schülerschaft heterogen ist, sondern in denen auch nichtjüdische Kinder zur Schulgemeinschaft gehören. 

Insofern muss man diese Hürde erst einmal nehmen. Es war in dem Projekt eher von Vorteil, sagen zu können, uns interessiert die Frage des Antisemitismus etwa in Bezug auf die Schulwahlmotive der Eltern, dass es aber nicht nur darum geht, sondern auch um die Entwicklung von jüdischen Schulen und die Frage nach deren derzeitigen Stand. Das war, glaube ich, ein wesentliches Motiv der Schulen, an der Studie teilzunehmen. 

FonA21: Wie sieht es denn mit der Pluralität jüdischen Lebens an den Schulen aus? Die Linie der evangelischen und katholischen Schulen ist ja geradlinig, unabhängig davon, was die Einzelnen dann daraus machen in ihrer individuellen Religionsausübung. Aber im Judentum gibt es ja nun mal sehr unterschiedliche Strömungen. Kann diese Breite überhaupt integriert werden und wenn ja, wie?

Körber: Jenseits der beiden religionsbezogenen Fächer also Hebräisch und Religionsunterricht, gibt es bestimmte Richtlinien im Ablauf des Schulalltags. In den Grundschulen (in den weiterführenden Schulen verändert sich das ein bisschen) werden morgendliche Gebete abgehalten, Kaschrut gilt nach den Vorgaben der orthodoxen Rabbinerkonferenz, und es gibt die Auflage für die männlichen Schüler, zu den Gebeten und zum Essen eine Kippa zu tragen. Das Schuljahr wird an die Feste und Feiertage angepasst. So endet die Woche mit dem Kabbalat Schabbat und die Ferien werden entlang der Feiertage geplant, vor allem im Herbst zu den Hohen Feiertagen bzw. im Frühling zu Pessach. Zudem werden die jüdischen Feste in der Grundschule in mehreren Fächern – in erster Linie aber im Religionsunterricht – behandelt und vorbereitet und gemeinsam in der Klassen- und Schulgemeinschaft gefeiert.  

Das sind tatsächlich die Elemente, die das Profil der jüdischen Schulen kennzeichnen. Darin bildet sich ein strikteres Regularium ab, denn es gilt die orthodoxe Rabbinerkonferenz und deren Richtlinien. Daran müssen sich auch die halten, für die das vielleicht gar keine Bedeutung hat, oder die, die zwar auf Schweinefleisch verzichten, aber sich ansonsten an keine weiteren Regeln halten. Alles weitere in Bezug auf die Differenzierung oder die verschiedenen religiösen Strömungen im Judentum liegt in der Hand der Lehrer:innen, in der Vermittlung des Religionsunterrichts. Somit ist es abhängig vom Lehrpersonal, wie viel oder wie wenig davon vermittelt wird. In der Tendenz allerdings eher weniger, jedenfalls was die Beispiele angeht, die wir jetzt untersucht haben. Das Personal ist eher orthodox orientiert, was sich auch in der Gestaltung des Religionsunterrichts widerspiegelt. So berichteten beispielsweise Interviewpartner: innen in Hamburg, dass eher zu wenig über die verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums unterrichtet wird. 

Und wenn wir über die jüdischen Grundschulen sprechen, geht es vorrangig um das Einüben bestimmter Praktiken und Rituale. Das fängt schon in der Kita an, in der die Kinder nicht nur lernen, dass es bestimmte Feiertage gibt, sondern auch in eine bestimmte Form der Ritualpraxis eingeführt werden. Die ist zum Teil aus israelischen Schulkonzepten übernommen. Viele Eltern sind dankbar darüber, dass die Kinder lernen, wie Schabbat gefeiert wird, denn zu Hause praktiziert man es im Zweifel nicht oder nur ganz wenig. Daher verbinden die Eltern mit der Wahl einer jüdischen Grundschule in erster Linie, dass ihre Kinder in die jüdische Religion und entsprechende Praktiken eingeführt werden. Da kommen wir sozusagen zu Selbst- und Fremdwahrnehmung: Die Schule soll etwas leisten, was zu Hause in der Mehrzahl der Fälle nicht geleistet wird. So passiert es häufig, dass das Wissen über das Judentum und seine Ritualpraktiken zuallererst über Kinder vermittelt wird. So übernehmen die Schulen an dieser Stelle eine zentrale Funktion, ähnlich wie auch die Jugendzentren, für die Familien, die sich entscheiden, diesen Weg zu gehen und den institutionalisierten Zugang zu jüdischer Bildung suchen.

FonA21: Wie gehen denn die nichtjüdischen Schüler:innen mit der jüdischen Ritualpraxis um? Im Grunde ist das doch die perfekte Antisemitismusprävention, oder?

Körber: In der Tat, denn nicht nur, dass die nichtjüdischen Kinder etwas über eine Lebensform und Lebenswelt kennenlernen, die nicht ihre eigene ist, sondern sie lernen ja auch im Alltag mit den jüdischen Kindern, dass diese zwar einer Gruppe angehören, die mit jüdisch überschrieben, aber in sich vollkommen heterogen ist. Sie lernen Kinder kennen, die streng orthodox leben, aber auch solche, die aus traditionell jüdischen Familien kommen oder säkular sind. Das ist, glaube ich, tatsächlich erst mal eine gute Erfahrung, die die meisten in dieser Gesellschaft überhaupt nicht machen und auch nicht machen können. Insofern ermöglicht der Raum eine Ausnahmeerfahrung, nämlich den schulischen Alltag selbstverständlich mit einer heterogenen Gruppe von Jüdinnen und Juden zu teilen. Dazu gehört auch, in Bezug auf die Erfahrung von Antisemitismus zu erleben: Was bedeutet es für die, die neben mir stehen, mit solchen Erfahrungen konfrontiert zu sein? Die nichtjüdischen Schülerinnen und Schüler werden in einer Weise sensibilisiert, wie das andernorts so nicht der Fall ist. 

Kunze: Dies gilt übrigens nicht nur für die Erfahrungen von Antisemitismus, sondern auch für das Wissen nichtjüdischer Schüler: innen über die Shoah. So schreiben in Frankfurt alle Schüler: innen der achten Klasse anlässlich von „Jom HaShoah“ im Deutschunterricht Aufsätze über die Verfolgungs- bzw. Überlebensgeschichte ihrer Familienangehörigen oder haben die Möglichkeit, Bewohner: innen des Altenzentrums der Jüdischen Gemeinde Frankfurts zu interviewen. Infolgedessen lernen auch die nichtjüdischen Schüler: innen die Verfolgungs- und Überlebensgeschichte der Familien ihrer jüdischen Klassenkamerad: innen kennen. Neben Jom HaShoah – bei dem in der Westend-Synagoge eine gemeinsame Gedenkveranstaltung von Schule und Gemeinde stattfindet, in der eine Auswahl an Schüler:innen ihre Aufsätze vorlesen – werden mehrere Gedenktage, die an die Shoah erinnern, seit der Grundschule in Frankfurt jährlich und in unterschiedlichen Fächern thematisiert, so dass die Shoah-Erziehung einen anderen Stellenwert einnimmt als an staatlichen Schulen. So berichteten uns interviewte nichtjüdische Schüler: innen, dass ihnen bei Freund:innen aufgefallen sei, die eine staatliche Schule besuchen, dass diese im Unterschied zu ihnen nur über wenig Wissen über den Holocaust verfügen würden. 

FonA21: Was bewegt denn nichtjüdische Eltern, ihre Kinder auf eine jüdische Schule zu schicken? 

Körber: Ich glaube, es gibt verschiedene Motivlagen. Das eine ist zum Teil die Vorstellung humanistischer Bildung, die mit den jüdischen Schulen assoziiert wird. Also eine besonders gute und auch breite Form der Wissensvermittlung, die einem bestimmten bildungsbürgerlichen Milieu sehr am Herzen liegt. Das ist sicherlich auch mitunter mit der Vorstellung verbunden, damit zum Aufbau einer besseren Gesellschaft beizutragen und jüdisches Leben in Deutschland zu unterstützen. Dies trifft vor allem auf die nichtjüdische Elternschaft in Frankfurt zu. Es gibt aber auch andere Erwägungen, in denen sich der Wunsch der Eltern nach einer „guten Schule“ für ihre Kinder widerspiegelt und mit denen die Eltern je nach Schulstandort unterschiedliche Aspekte und unterschiedliche Angebote der Schulen verbinden: Im Frankfurter Fall haben wir es mit einer weiterführenden Schule zu tun, die ein sehr leistungsstarkes G8-Gymnasium ist und insofern auch eher leistungsstarke bzw. leistungsinteressierte Elternhäuser anzieht. Zudem genießt die Schule, die bereits seit 1966 existiert, einen sehr guten Ruf in der Frankfurter Schullandschaft. In Hamburg gibt es wiederum neben den Gymnasien als anderes Schulmodell die sogenannten Stadtteilschulen, also die Möglichkeit, Abitur erst nach neun und nicht schon nach acht Jahren abzulegen, was für die Schüler:innen mit weniger Leistungsdruck verbunden ist. Auch bei der jüdischen Schule Hamburgs handelt es sich um eine Stadtteilschule, die in einem bürgerlichen Viertel liegt und den Ruf hat, eine kleine und behütete Schule zu sein, anders als das zum Teil an anderen Stadtteilschulen in der Wahrnehmung der interviewten Eltern der Fall ist. So berichteten uns fast alle nichtjüdischen Eltern von Mobbingerfahrungen ihrer Kinder auf staatlichen Hamburger Schulen, die zu einem Wechsel an die Joseph-Carlebach-Schule führten, an der sich ihre Kinder aufgrund der kleinen Klassen und des damit einhergehenden familiären Schul- und Sozialklimas schnell einlebten. 

Und insofern besteht mitunter zwischen den Schulwahlmotiven und der Bedeutung einer jüdischen Schule zunächst sehr viel Distanz, die im Grunde auch gehalten wird. Einerseits gilt ein Set an für alle verbindlichen jüdischen Regeln und andererseits unterscheiden sich die Schulen in vielerlei Hinsicht nicht von staatlichen Schulen, zum Beispiel was das Curriculum betrifft. Die Speiseregeln werden vor allem von älteren Schüler:innen – zu denen in den Oberstufen in Hamburg und Frankfurt ein Großteil nichtjüdischer und nichtreligiöser Schüler:innen gehören – bisweilen auch als nervig und schräg wahrgenommen und mitunter auch verschiedene Strategien entwickelt, um nichtkoschere Lebensmittel in die Schulen zu bringen.

Aber letztendlich gilt sozusagen der Vergleich und das Angebot und was diese Schule zu bieten hat. Die Schulen sind als Privatschulen deutlich günstiger als andere Privatschulen und bieten, weil sie koscher sind, dafür eine gesamte Tagesverpflegung an. Das ist für Eltern entlastend. Man muss sich nicht um den Geburtstagskuchen Gedanken machen, weil man den ohnehin nicht mitbringen darf, sondern einen Kuchen in der koscheren Schulküche bestellt. 

Kunze: Hier ist auch noch zu erwähnen, dass es sich bei allen drei Schulen um Ganztagsschulen handelt, was nichtjüdische Interviewpartner:innen ebenfalls als elterliche Entlastung beschrieben, da ihre Kinder den ganzen Tag betreut werden. In Köln gehört zum Angebot der Schule auch ein Bus-Service, der die Kinder zu Hause abholt und sie nach Schulschluss wieder zurückbringt, so dass sich der organisatorische Aufwand für Eltern stark reduziert. Dabei bleiben die Kinder in Köln von ca. 7:45 bis 15:30 in der Schule und werden im Anschluss nach Hause gefahren, während beispielsweise in der Frankfurter Grundschule die Schüler:innenbetreuung den Familien bis in den frühen Abend offensteht. Im Unterschied dazu enden staatliche Grundschulen in der Regel mittags. 

FonA21: Ist denn die Forschungsfrage nun abgeschlossen und wie sehen die nächsten Schritte aus? Wie werden die Forschungsergebnisse aufbereitet werden?

Körber: Wir sind zurzeit dabei, die Forschungsergebnisse auszuwerten, um sie dann in Handlungsempfehlungen zu überführen. Wir stellen die Frage, was unsere Erhebungen für jüdische Schulen sowie für die Bildungspolitik und -praxis an sich bedeuten können. Ein wichtiger Teil wird auf jeden Fall die Ausarbeitung von Handlungsempfehlungen für die jüdischen Schulen sein, weil wir auch so etwas wie eine Bestandsaufnahme von Bedarfen gemacht haben, vor allem in Bezug auf die Personal- und die Ausbildungssituation. 

FonA21: Im zweiten Hamburger Teilprojekt von „RelcoDiff“ wird der Hamburger „Religionsunterricht für alle“ untersucht, der ja verpflichtend in Hamburg ist. Wird dieses Konzept des Religionsunterrichts für alle auch an der jüdischen Schule angewendet werden?

Körber: Das ist wirklich ein interessanter Punkt. Der Religionsunterricht für alle greift ja bisher nur sehr langsam. Das Konzept ist jetzt durchgesetzt und auch die ersten ausgebildeten Lehrkräfte sind mittlerweile mit dem Studium fertig. Es wurde öfter die Hoffnung der Eltern geäußert, dass der „RUfa“ auch an der jüdischen Schule in Hamburg umgesetzt werden muss. Die Lichtigfeld-Schule in Frankfurt hat lange schon ein sogenanntes Trialogkonzept und führt in der Mittelstufe auch in andere Religionen ein, was auch im hessischen Kerncurriculum für jüdische Religion verankert ist, dem die Schule folgt. In Hamburg ist die Nichtthematisierung anderer Religionen für Schüler und Schülerinnen ein klares Desiderat, die vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Erfahrung und der Zusammensetzung ihrer Klassen mit einem hohen Anteil an nichtjüdischen Schüler:innen für die Inklusion anderer Religionen in den Religionsunterricht plädieren. 

Zum Teil beklagen auch die Eltern, ebenfalls jüdische wie nichtjüdische, der ausschließlich jüdische Religionsunterricht spiegle nicht die gesellschaftliche Realität wider, nicht einmal die Realität an dieser Schule, an der ja häufig eben nicht nur christliche, sondern auch muslimische Kinder lernen. Die Lehrer:innen wiederum machen mitunter die Erfahrung, dass sich gerade die muslimischen Kinder auf manches beziehen können, was im jüdischen Religionsunterricht mitgeteilt wird. 

FonA21: Liebe Frau Körber, liebe Frau Kunze, vielen Dank für das Gespräch.

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Dr. Karen Körber leitet am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ) in Hamburg den Bereich der Jüdischen Gegenwartsforschung. Sie hat die Verbundleitung für das BMBF geförderte Forschungsprojekt „Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit“ inne, in dem sie das Teilprojekt „Religiös codierte Differenzkonstruktionen – jüdische Perspektiven“ verantwortet. Karen Körber forscht und publiziert zum Verhältnis von Migration und Transformation in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nach 1945 bis in die Gegenwart. 2022 erschien ihre Studie „Lebenswirklichkeiten. Russischsprachige Juden in der deutschen Einwanderungsgesellschaft“ bei V&R.

Susanna Kunze, M.A. ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF geförderten Forschungsprojekt „Religiös codierte Differenzkonstruktionen – jüdische Perspektiven“ am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ) in Hamburg. Sie forscht und publiziert zu Themen jüdischer Erziehung und Bildung, Jugendbewegungen und Antisemitismus im 20. und 21. Jahrhundert.  

Susanna Kunze