Jüdische Perspektiven auf den 9. November 1938 und die deutsche Erinnerungskultur (Teil II)

Die „Novemberpogrome“ des 9. November 1938 jährten sich in diesem Jahr zum 84. Mal. Zu diesem Anlass sprachen wir mit Wissenschaftler:innen aus zwei Projekten, die sich vor allem der jüdischen Perspektive widmen, über die Relevanz dieses Tages für Jüdinnen und Juden heute in Deutschland.

Ich begrüße Herrn Dr. Kurt Grünberg und Herrn Simon Arnold für ein Gespräch über die Relevanz des 9. November 1938 bzw. diesen Gedenktag für Juden und Jüdinnen der 2. und 3. Generation in Deutschland.

Herr Grünberg, Sie selbst gehören der sogenannten 2. Generation an. Welche Bedeutung hat der 9. November 1938 für Sie?

Grünberg: Lassen Sie mich einmal so beginnen: Über meinem Schreibtisch hier im Sigmund-Freud-Institut hängt eine gerahmte Megillat Esther, und zwar die eine Hälfte der pergamentenen Schriftrolle. Die andere Hälfte befindet sich bei uns zu Hause im Wohnzimmer. Von der Rahmung her sieht sie genauso aus. Das allein – dieses „Setting“, etwas Bedeutendes sowohl an seinem Arbeitsplatz als auch zu Hause zu haben – bringt ja schon zum Ausdruck, dass es damit etwas Spezielles auf sich haben muss. Diese Megillat Esther befand sich in der Synagoge des Ortes, in dem ich aufgewachsen bin, in Sögel in Niedersachsen, wo am 9. November 1938 die Synagoge in Brand gesetzt wurde. Ein Nachbar der Familie meines Vaters, die dort schon seit mehreren Generationen gelebt hatte, hat diese Megillat Esther, eine Torarolle sowie ein Schofar aus der bereits brennenden Synagoge gerettet und während der restlichen Jahre der Nazizeit bei sich im Haus versteckt. Mein Vater war der einzige Überlebende seiner Familie. Fast alle Juden, die dort in diesem Dorf und überhaupt in dieser Gegend gelebt haben, sind ermordet worden. Die Familie meines Vaters lebte unmittelbar neben der Synagoge. Mein Vater besuchte die jüdische Schule in Sögel. In dem Dorf lebten damals etwa 1500 Menschen. Die Synagogengemeinde Sögel hatte 80 Mitglieder und noch einmal 80 Juden lebten im Nachbardorf Werlte. Zu den hohen Feiertagen kamen vermutlich alle nach Sögel. Wenn man das jetzt hochrechnet, versammelten sich also rund 10 Prozent der Bevölkerung mitten im Ort, denn diese Synagoge lag sehr zentral. Das jüdische Leben in Sögel muss also ausgesprochen sichtbar gewesen sein.

Diese Megillat Esther mit ihrer speziellen Geschichte hing in meinem Elternhaus im Wohnzimmer, und das repräsentiert gewissermaßen etwas von dem, was ich geerbt habe: Eine Megillat Esther, die zum Ausdruck bringt, dass es eben auch einen nicht-jüdischen Menschen gegeben hat, der die Torarolle und die anderen Gegenstände rettete und sich und die eigene Familie damit in Gefahr brachte und der dann später all diese Dinge meiner Familie übergab.

Alles andere wurde vernichtet, die Juden ermordet. Außer dem jüdischen Friedhof blieb nichts erhalten. Die am 9. November 1938 gerettete Megillat Esther markiert dabei eine bedeutsame Zäsur.

Ihr Vater ist tatsächlich dahin zurückgegangen in diesen kleinen Ort, wahrscheinlich dann als einziger überlebender Jude?

Grünberg: Ja, neben ihm gab es noch einen anderen Juden, der auch dorthin zurückkehrte und eine nicht-jüdische Frau heiratete. Zwei weitere Juden gingen nach Werlte und Lathen zurück. Diese vier Männer waren in einem Umkreis von etwa 25 km die einzigen Juden, die dort lebten. Deswegen habe ich das erzählt: Vor der Shoah gab es eine jüdische Schule, es gab diese Synagoge. Es gibt nach wie vor einen jüdischen Friedhof, am Ortsrand. Nun gibt es auch ein kleines Denkmal, das an die Zerstörung der Synagoge erinnert. Und es gibt ein Denkmal auf dem jüdischen Friedhof, auf dem die Namen der ermordeten Juden Sögels aufgelistet sind. Das Denkmal besteht aus drei Teilen: In der Mitte befindet sich ein Stein zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, auf dem acht Juden genannt werden, die für das „deutsche Vaterland“ gefallen seien. Eingerahmt wird dies von einem in den 1980er Jahren errichteten Denkmal, auf dem der Jüdinnen und Juden erinnert wird, die „von Menschen ihres Vaterlandes ermordet“ wurden. Es greift also das „für das Vaterland“ auf und versieht es mit einem Spruch aus dem Buch Hiob „Die Erde bedecke nicht ihr Blut und ihr Schrei höre nie auf“.

Hatte der 9. November als Gedenktag einen hohen Stellenwert in Ihrer Familie?

Grünberg: Der 9. November als der Tag der Zerstörung der Synagoge war uns durch die Megillat Esther sinnbildlich immer vor Augen geführt. Dieser 9. November war in unserer Familie stets ein wichtiger Tag der Erinnerung, auch deswegen, weil mein Vater, Onkel, Großvater sowie die anderen männlichen Juden, die 1938 noch in Sögel lebten und über 16 Jahre alt waren, an dem Tag verhaftet wurden. Ich glaube, sie verbrachten einige Tage in Osnabrück im Gefängnis. Mein Vater und sein Bruder kamen dann zurück in das Elternhaus und mein Großvater wurde für einige Wochen nach Buchenwald oder Sachsenhausen verbracht. Eine Erzählung meines Vaters ist für mich mit diesem 9. November ganz besonders stark verbunden: Als sie nach ungefähr vier Tagen aus dem Gefängnis ins Elternhaus zurückkehrten, erschraken sie über die grauen Haare meiner Großmutter. Sie waren vorher schwarz gewesen. In diesen wenigen Tagen ergraute sie vollständig.

Nun bestehen die heutigen jüdischen Gemeinden mittlerweile zu großen Teilen aus postsowjetischen Einwanderer:innen, deren Familientradition ja nicht mit dem 9. November 1938 verbunden ist. Denken Sie, dass für sie der 9. November eine ebensolche Relevanz hat?

Grünberg: Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Erinnerung von Jüdinnen und Juden oder deren Nachkommen, die 1938 am 9. November nicht in Deutschland lebten, eine ganz andere ist. Für viele von ihnen spielt der 9. November als Tag zunächst erstmal keine so große Rolle, denn am 9. November 1938 ist zum Beispiel in Polen, soweit ich weiß, nichts „Besonderes“ geschehen. Das war für die deutschen Juden anders.

Stellt der 9. November für die jüngere postsowjetische Generation, die jetzt zwischen 20 und 30 Jahre alt und hier aufgewachsen ist, dennoch eine Art identitätsstiftendes Element dar?

Grünberg: Ja, genau das war mein Gedanke vorhin. Ich würde vermuten, dass auch für viele Juden, die nach 1945 in Deutschland aufgewachsen sind oder ab 1991 als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik kamen, der 9. November zu einem bedeutenden Identifikationstag geworden ist. Durch regelmäßige Veranstaltungen in Synagogen, in Gemeinden oder, wie hier in Frankfurt am Main, in der Paulskirche.

Sie leben seit einiger Zeit in Frankfurt am Main, das ja eine starke jüdische Gemeinde und auch eine prominente Gedenktradition hat. Wie erleben Sie dort den 9. November?

Grünberg: Wenn Sie die Gedenktradition ansprechen, spielen Sie sicherlich auf die Auseinandersetzungen in den 80er Jahren um den Börneplatz an. Dabei gibt es viele Geschichten zu erzählen: Es ist interessant, dass in der Nähe des Börneplatzes, an dem Ort der zerstörten Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft, vier Jahre nach dem November 1938 ein Hochbunker errichtet worden war, der der „arischen“ Bevölkerung zum Schutz vor den alliierten Bombenangriffen diente. Vor dem Hochbunker versammelten sich am 9. November in den ersten Jahren nach der Shoah stets Mitglieder der wiedergegründeten jüdischen Gemeinde Frankfurts, während es wie andernorts an diesem Tag über Jahrzehnte kein „nicht-jüdisches“ Gedenken gab. Ich lebe seit gut 30 Jahren in Frankfurt und habe das nicht mehr persönlich mitbekommen. Aber ich finde es interessant und es wäre spannend, es genauer zu untersuchen: Wer waren die Menschen, die dort hingegangen sind? Die Gemeinde bestand ja damals vermutlich zum größten Teil aus Displaced Persons, die zum Beispiel nach Zeilsheim gekommen waren. Sie haben dort am 9. November eine Gedenkveranstaltung durchgeführt, sind also zu dem Ort gegangen, an dem vormals eine Synagoge gestanden hat. Aber eben eine spezielle Synagoge, nämlich die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft, einer neo-orthodoxen und zugleich sehr deutschen Gemeinde. Sie hätten theoretisch auch an den Ort der zerstörten Synagoge am Börneplatz gehen können. Ich weiß nicht recht, warum sie das nicht gemacht haben.

Noch heute liegen unter der Erde jede Menge Fundamente von der Synagoge am Börneplatz, die niemals so richtig ausgegraben und dokumentiert wurden. Im archäologischen Museum und gerade erst im Historischen Museum wurden die Überreste des Tora-Schreins dieser Synagoge ausgestellt, das fand ich ausgesprochen interessant. Es war nämlich nicht etwa so, dass die Synagoge angezündet wurde, sie zusammenbrach und dann lagen die Trümmer herum. Die Archäologen konnten vielmehr nachweisen, dass diesem Tora-Schrein aus Marmor mit aller Kraft Gewalt angetan wurde. Da müssen Leute reingegangen sein, mit Hämmern und irgendwelchen Werkzeugen, und müssen diesen Tora-Schrein zertrümmert haben. So werden all die Wut und der Hass darin deutlich, wenn man solche Funde sieht. Das gehört ebenfalls zur Geschichte des 9. Novembers.

Sie befassen sich ja in Ihrem Projekt explizit mit der 3. Generation und der Frage, inwieweit sich die erlebten Traumata der Großeltern durch „Szenisches Erinnern“ auf diese junge Generation übertragen. Erwarten Sie, dass dort der 9. November eine Rolle spielen wird?

Grünberg: Die 3. Generation, also die Enkelinnen und Enkel der Überlebenden, ist eine sehr heterogene Gruppe und umfasst eine ziemlich große Altersspanne. Wie bereits gesagt ist die deutsch-jüdische von der Perspektive derjenigen zu unterscheiden, deren Familien nach der Shoah nach Deutschland gekommen sind und zum großen Teil den 9. November vor allem als Gedenktag kennen.

Arnold: Ich denke über die Frage nach, was der Gedenktag für die 3. Generation bedeuten könnte und was aus unseren bisherigen Forschungen zu transgenerationalen Dynamiken aufgegriffen werden kann. Ich glaube, der Differenz, die Du gerade aufgemacht hast, könnte man noch eine weitere hinzufügen: die zeitliche. Zumindest in bestimmten Kreisen der 3. Generation gibt es einen Verlust der direkten persönlichen Verbindung. Und das macht schon etwas aus. Es ist immer schwierig, über alle zu reden. Aber um nur ein Beispiel zu nennen: es gibt mittlerweile auch einen ziemlich kritischen Umgang mit dem 9. November, der heute ja eigentlich auch als Tag wiederum ganz stark für das steht, was einige als „Gedächtnistheater“ oder „Gedenktheater“ bezeichnen. Der 9. November wird heute häufig als ein „Schicksalstag der deutschen Geschichte“ apostrophiert, weil es [seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Anm. d. Red.] so viele Ereignisse an diesem Tag gegeben hat, die so entscheidend gewesen seien und ganz stark eingebaut werden in eine eigentlich nicht-jüdisch-deutsche Erinnerung.

Würden Sie sagen, dass der 9. November 1938 durch den 9. November 1989 in der allgemeinen Erinnerungskultur noch weiter in den Hintergrund gerückt ist?

Grünberg/Arnold: Ja, klar. Das wäre ein weiterer Verlust…

Sehen Sie Unterschiede zwischen Ost und West und zwischen den Generationen?

Grünberg: Ich würde gerne noch einmal einen Schritt zurückgehen, bevor ich auf Ihre Frage komme, und noch überlegen, was an dieser Frage mit dem „Gedächtnistheater“ bzw. ritualisierten Gedenken dran ist. Ich persönlich habe mich erst einmal nicht so daran gestört. Ich habe viele solche Veranstaltungen in meinem Leben besucht, bin immer mit vielen Gedanken und viel Gefühl dahingegangen und fand es enorm wichtig. – Das ist für Überlebende von Bedeutung, das machen wir auch im Treffpunkt für Shoah-Überlebende hier in Frankfurt am Main. Es ist wichtig, ein Stück Gemeinsamkeit daran zu erleben, und ich habe immer gesagt, ich finde es wichtig, dass es so ein offizielles Gedenken gibt. Ich habe mich aber schwer damit getan, dass es mehr oder weniger dieselben Menschen waren, die am 9. November eines jeden Jahres in die Paulskirche hier in Frankfurt gingen, um dort an 1938 zu erinnern, wie diejenigen, die sich in der Paulskirche von den Plätzen erhoben, applaudiert und frenetischen Beifall für Martin Walser geleistet haben, als er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Für mich ist das kein Friedenspreis mehr, wenn so ein Typ wie Martin Walser, der von der „Auschwitzkeule“ gesprochen hatte, ihn bekommt. Und dann stehen – außer Ignaz Bubis und seine Frau – die Leute auf und applaudieren. Das ist für mich widerlich! Als Walser dann auch noch den Roman „Tod eines Kritikers“ geschrieben hat, in dem es um Marcel Reich-Ranicki ging, haben wir im Sigmund-Freud-Institut eine Veranstaltung durchgeführt. Es war vollkommen klar, dass Walser Reich-Ranicki den Tod an den Hals gewünscht hat. Ich habe damals mehrere Fassungen von diesem Buch gelesen, ich glaube drei Versionen hatte ich davon. Was nachher als Buch erschienen ist, das war schon geglättet, damit der Antisemitismus nicht so krass zum Vorschein kommt. Und dieses Nebeneinander von Gedenken in der Paulskirche, das ich sehr wichtig finde und immer vertreten würde, was wirklich eine Identifikationsveranstaltung sein kann für Menschen, und dem, was ich gerade nannte – das finde ich unerträglich.

Jetzt komme ich zur Frage mit den jüngeren Leuten: Wenn ich mir noch einmal das Erscheinungsbild vor Augen führe, sind es eher wenige junge Leute, die dort in diese Veranstaltungen gehen. Es handelt sich um Überlebende, um Personen aus der Jüdischen Gemeinde, einige nicht-jüdische Deutsche und um lokale Polit-Prominenz. Meines Erachtens bringt das, was mit dem 9. November verbunden ist, eigentlich eine „gespaltene Erinnerung“ hervor. Metaphorisch gesprochen wird hier der Zaun von Auschwitz sichtbar, der quasi die Welten trennt.

Aber wie steht es um die jüngere, die 3. Generation?

Grünberg: Ich bin froh und zugleich erstaunt darüber, dass es eine ganze Reihe von jungen Menschen gibt, nicht zuletzt in unserer Forschungsgruppe hier am Sigmund-Freud-Institut und unserem Umfeld, die sich nach den vielen Jahren nach dem 9. November 1938 wirklich für diese Geschichte interessieren und Zusammenhänge verstehen wollen, für die das sehr wichtig ist.

An den jüdischen Schulen in Deutschland wird natürlich dem 9. November 1938 gedacht, aber ich habe das Gefühl, dass es auch für die Schülerinnen und Schüler an diesen Schulen nicht viel tiefer geht, als es Rituale so an sich haben. Stimmt da mein Eindruck?

Arnold: Ja, das führt auch ein bisschen zurück zu dem Gedanken „Jetzt haben wir die Erinnerung an den 9. November 1938 mit dem 9. November 1989 verloren“. Es gab ja auch noch andere bedeutende 9. November, z.B. 1918, wo man sich überlegen könnte, was da verloren ging. Aber wahrscheinlich ist 1989 heute dann doch das Entscheidendste. Gleichzeitig hatte ich irgendwie immer den Eindruck, der 9. November 1938 markiert zwar ein entscheidendes Datum in der Geschichte des Nationalsozialismus, ist aber trotzdem eigentlich immer noch – und das sage ich mit Vorsicht und im Vergleich mit dem was danach kam – leichter verdaulich. Es geht da um Ereignisse, bei denen ich mir sogar vorstellen könnte, dass Leute in der Sowjetunion teilweise ähnliche Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht haben. Und damit möglicherweise gar nicht so weit entfernt sind von späteren Erfahrungen.

Ich möchte darauf hinaus, dass vielleicht das, was am 9. November 1938 und in den Tagen drumherum passiert ist, eigentlich noch Formen eines – und nochmals, ich sage das mit Vorsicht – quasi-alltäglichen Antisemitismus waren. Aber dass es gewissermaßen noch nicht die Shoah war. Und dass den Deutschen das Erinnern an diese Frühformen dann nicht zufällig leichter fiel. Also z.B. darüber nachzudenken „Was heißt Ausgrenzung?“ und dann haben die Deutschen für sich in Anspruch genommen: „Wir dürfen keine Mitläufer mehr sein, wir dürfen nicht zuschauen“, aber es ging quasi nie um die fabrikmäßige Vernichtung.

Grünberg: Da bin ich mir nicht ganz so sicher. Der 9. November ist ein Wendepunkt in der Geschichte. Da sind zehntausende jüdische Männer nach Buchenwald gekommen und haben da tagelang Appell gestanden. Da gibt es das berühmte Foto von diesen Männern, die den ganzen Tag stehen mussten. Und überhaupt die Deportationen, dann mussten manche von denen, die dann wieder entlassen wurden, so wie mein Großvater auch, unterschreiben, dass sie kein Wort über das, was sie dort erlebt hatten, verlieren würden. Ich weiß es nicht genau, aber ich könnte mir vorstellen, dass mein Großvater, den ich ja nie kennengelernt habe, sich daran gehalten hat. Vielleicht hat man aber auch nur den Kindern nichts gesagt, weil man ihnen das Grauen ersparen wollte oder Angst hatte, dass wenn rauskommt, dass sie darüber gesprochen haben, sie wieder hingebracht werden. Jedenfalls haben sie es am Ende sowieso nicht verhindern können, dass sie drei Jahre später deportiert und später ermordet worden sind.

Ich empfinde als Jüdin manchmal ein sehr starkes Gefühl des Fremdseins an diesem Tag. Ob das sich auch in die nächsten Generationen tradiert? Meinen Sie, in Ihren Gesprächen im Frühjahr 2023 wird solch ein Gefühl des Fremdseins auch eine Rolle spielen?

Grünberg: Ich kann mir einerseits vorstellen, dass niemand von unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern den 9. November erwähnen wird. Aber ich kann mir gleichzeitig auch vorstellen, dass es jemand so in dem Sinne, wie wir das jetzt besprochen haben, aufwirft. „Gedächtnistheater“ ist das eine, aber es gab eben auch die Auseinandersetzungen in den Familien. Ich glaube jedenfalls, dass das, was sich in den einzelnen Familien zutrug und das offizielle Erleben auf jeden Fall zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Ich bin gespannt, was die 3. Generation über das Gefühl des Fremdseins zu sagen hat. Kann mir aber auch da gut vorstellen, dass es ein großes Thema ist. Gerade wenn man sich – wie wir das tun – für die Verschränkung von tradierten Formen des extremen Traumas während der Shoah und den Antisemitismuserfahrungen im Leben heute interessiert.

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Der Psychoanalytiker Dr. Kurt Grünberg ist Sprecher des interdisziplinären Forschungsverbunds Antisemitismuserfahrung in der Dritten Generation. Zur Reaktualisierung extremen Traumas bei Nachkommen von Überlebenden der Shoah und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut für Psychoanalyse und ihre Anwendungen in Frankfurt am Main. Simon Arnold ist ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter im Verbundprojekt und psychoanalytischer Berater für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Das Gespräch führte Adina Stern am 7. November 2022 per Zoom.

Dr. Kurt Grünberg und Simon Arnold vor der Megillat Esther

Gedenksteine auf dem jüdischen Friedhof von Sögel