Jüdische Wahrnehmungen christlicher Anti-Antisemitismusinitiativen

Workshop-Bericht des Verbundprojektes "Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus" (Sara Han, Philipp Schlögl)

Am 22. und 23. November 2022 fand im Rahmen des Verbundprojekts „Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus“ der Workshop „Jewish Perceptions of Christian Anti-antisemitism Initiatives“ in der evangelischen Bildungsstätte auf Schwanenwerder am Berliner Wannsee statt. Der Workshop wollte die jüdische Sicht auf christliche Bemühungen, Antisemitismus zu thematisieren, aufzuarbeiten und zu bekämpfen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und die Notwendigkeit der historisch-theologischen Erforschung der Dynamiken religiös motivierter Antisemitismen unterstreichen.

Internationale Wissenschaftler:innen warfen über zwei intensive Tage hinweg kritische Blicke auf die jüngere Vergangenheit und Gegenwart jüdisch-christlicher Beziehungen. Grundlage der Diskussionen war der Befund, dass die christlichen Kirchen nach 1945 den Vorwurf des Antisemitismus zwar von sich wiesen, sich der Weg hin zu einer Theologie der Wertschätzung gegenüber dem Judentum – selbst noch nach offiziellen Dokumenten beider Kirchen zum Verhältnis Kirche und Judentum – nur sehr langsam und mühsam gestaltete. Vor allem die Projektionen des Judentums innerhalb jüdisch-christlicher Interaktionen standen im Fokus des Workshops. Welche Konsequenzen hat beispielsweise das christliche Bild vom Judentum im Rahmen von Anti-Antisemitismus-Initiativen für Jüdinnen und Juden? In diesem Zusammenhang warf die Historikerin Karma Ben Johanan die Frage auf, ob nicht politische und kirchliche Konstruktionen über „das“ Judentum bzw. Jüdinnen und Juden – stets im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus – die Potentiale jüdischer Selbstkritik hemmen würden. Mit dem Blick auf die Wahrnehmung einer jüdischer Perspektive unterstrich der Religionsphilosoph Elad Lapidot in der Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas und Jean-Paul Sartre die Verbindung zwischen Religiösem und Säkularem im Kontext der „Judenfrage“ und des Anti-Antisemitismus. Dies gab Anlass zur Diskussion, inwiefern die gegenwärtige Ausblendung der jüdischen Perspektiven den theologisch motivierten Antisemitismus reproduziert.

Der Vortrag der evangelischen Theologin Katharina von Kellenbach wiederum widmete sich der feministischen Perspektive und machte deutlich, dass die institutionelle Position von Frauen in den Initiativen beider Glaubensgemeinschaften gegen Antisemitismus kaum verhandelt werde, obwohl gerade die Initiativen der Frauen einen enormen Beitrag für den jüdisch-christlichen Dialog leisteten. Durch ihre Auseinandersetzung mit den Begegnungsräumen jüdischer und nicht-jüdischer Frauen, die von ihnen gestaltet und getragen wurden, würdigte sie das frühe Engagement der Frauen im Kampf gegen Antisemitismus und machte zugleich kritisch auf den theologischen Antisemitismus innerhalb feministischer Theologie aufmerksam.

Ein dritter Schwerpunkt des Workshops galt der politischen Dimension der jüdisch-christlichen Interaktionen. Auf die aktuellen Auswirkungen religiöser, politischer und gesellschaftlicher Ausgrenzungsmechanismen im stark polarisierten Diskurs zum Verhältnis zwischen Judentum und Christentum, machten Yitzhak Mor und Hillel Ben Sasson in beindruckender Weise aufmerksam. Intensiv wurde die zunehmende Gefahr des Antisemitismus anhand der Wechselwirkungen im neokonservativen Kontext und der politischen Debatten in den USA und Israel diskutiert.  

Sämtliche Beiträge und Diskussionen über jüdische Wahrnehmungen christlicher Anti-Antisemitismus-Initiativen zeigten, dass mit einer Vielzahl wohlmeinender und insbesondere theologisch konnotierter Begriffe wie „Wiedergutmachung“, „Buße“ oder „Heilung“ in der christlichen Annäherung an die jüdische Seite in vielen Fällen die „Versöhnung“ immer schon voraussetzend an den Anfang der Anti-Antisemitismus-Initiativen zu stehen scheint. Jüdische Perspektiven und Wahrnehmungen wurden somit kaum wahrgenommen, sodass stets eine Instrumentalisierung der Initiativen bestand. Die intensiven Diskussionen machten deutlich, dass eine stärkere Selbstkritik der christlichen Kirchen und Initiativen dringend notwendig ist, um jüdischen Perspektiven Raum zu geben, ohne sie immer schon restlos in die eigenen Diskurse zu integrieren.

Veranstalter:innen:

Prof. Dr. Rainer Kampling (Verbundkoordinator, Freie Universität Berlin)

Prof. Dr. Karma Ben Johanan (Hebrew University of Jerusalem)

Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin)

Dr. Christian Staffa (Evangelische Akademie zu Berlin)

Sara Han, MA (Freie Universität Berlin)